86. Flasche
Alsace Riesling Zind Humbrecht Clos Hauserer 2008
Von aussen unbewegt riecht der Wein nach erkalteter Knall-Petarde und wie eine staubige Strasse nach einem kurzen Regen. Auch die Bewegung bringt kaum Frucht in den komplexen und harschen Aroma-Körper, es bleibt beim Steinigen. Im Mund ist der Wein im Grunde süsslich, mit einer gut strukturierten, ziemlich heftigen Säure. Es stellen sich ein paar fruchtige Assoziationen ein (ältere Melone, trockene Pampelmuse, unreife Aprikose, hausgemachtes Chutney), doch der Riesling hat nichts Liebliches –Zündstein, Flinte und eine leichte Bitterkeit bestimmen das Terrain.
Heute früh ist meine Mutter gestorben. Zwei Freundinnen und eine Pflegerin haben sie gewaschen, schön eingekleidet, mit Hibiskusblüten geschmückt und ihr ein gefaltetes Tuch so unters Kinn geklemmt, dass ihr der Unterkiefer nicht herab hing. Als ich am frühen Nachmittag nach Riehen kam, waren sie längst fertig mit ihrer Arbeit.
Ich setzte mich neben ihr Bett und betrachtete ihr gelblich und leicht violett verfärbtes Gesicht. Die letzten Tage gingen mir durch den Kopf, meine ständigen Reisen von Zürich nach Riehen, die Treffen mit meinem Vater, meinen Brüdern, den vielen Freundinnen meiner Mutter. Wir waren alle da, kam es mir in den Sinn, und doch war sie allein – ich dachte es auf Schweizerdeutsch: «Mir sin alli doo gsii – und doch isch si älai gsii». Das «gsii» kam mir, warum auch immer, vor wie das metallische Quietschen einer schlecht geölten Türe.
Meine Atemtherapeutin, erfahren in solchen Dingen, hat mir erzählt, wie schön und tröstlich es sei, wenn sich nach dem Tod auf dem Gesicht so eine friedliche und gelöste Ruhe einstelle. Das Gesicht meiner Mutter sah weder friedlich aus noch gelöst, sondern einfach nur unglücklich – wenn das Gesicht im Tod etwas Wahres über das Leben eines Menschen erzählt, wenn es etwas Zentrales davon spiegelt, dann war meine Mutter der unglücklichste Mensch der Welt.
Ich wäre so froh, ich würde mich täuschen – wenigstens ein bisschen.
Ich strich ihr vorsichtig über Haare, Stirne und Wangen. Ich berührte ihre Finger. Sie war eiskalt. Nachher wusste ich nicht, ob ich mir nun die Hände waschen sollte. Ich hinderte mich daran. Aber ich fand mich unmöglich, albern und geschmacklos.
Irgendwann kam das Bestattungsunternehmen und packte meine Mutter in eine Kiste aus Tannenholz. Im Sarg, auf dem Boden neben dem Bett, in dem sie die letzten Wochen durchlitten hatte, sah sie noch elender aus, wie eine Mumie oder als hätte sie jemand erschlagen, als sei sie schon ganz lange tot. Die zwei älteren Herren hatten einige Mühe, den Sarg um die vielen Kurven in meinem Elternhaus zu manövrieren. Dann schoben sie ihn in einen grauen Wagen und fuhren davon – so bedächtig, dass wir dahinter hätten her schreiten können.
Mir war, als bliebe der Duft von Buchsbaumhecken in der Luft zurück.
Mit der Zeit entwickelt der Riesling fast etwas Weihrauchartiges – oder sind es eher versengte Gewürze. Langes Kauen bringt sogar eine Terpentinnote heraus, etwas säuerlich Stinkiges.
Getrunken am Dienstag, 10. Februar 2015 in der Küche der Wohnung meines Bruders beim Schützenmattpark in Basel (Schweiz). Gekauft bei «Paul Ulrich AG» in Basel (Fr. 44.00 im Februar 2015).
Alsace Riesling Domaine Zind-Humbrecht Clos Häuserer
AOC, 2008, 13% Vol.
100% Riesling
Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von Olivier et Margaret Humbrecht in Wintzenheim (auf Karte anzeigen) und Turckheim (auf Karte anzeigen). Vin issu de raisins biologiques, Indice 1.
First Publication: 11-2-2015
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