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Vielleicht muss man den Moment über das Momentane hinausdehnen, um ihn bewusster wahrnehmen zu können: Riesenrad am Alten Hafen von Marseille. (Donnerstag, 27. November 2014)

76. Flasche

Abweichmanöver

Alsace Riesling Domaine Pfister Silberberg 2008

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach einem Restaurant früh am Morgen, frisch geputzt, ein Hauch von Feuchtigkeit und Javelwasser in der Luft. Mit der Bewegung kommt eine Ahnung von Schwarzpulver dazu, auch eine leicht schweflige Note weht herauf. Darüber kreist eine Durian. Im Mund ist der Wein etwas bitter, eher säuerlich als süss, ziemlich füllig. Von innen riecht er nach einer leicht angebackenen Zitrone, nach einer weissen Grapefruit, nach Eistee aus Eisteepulver (von «Lipton»). Lieblich ist er nicht, fast schon ein wenig unfreundlich.

Manchmal denke ich, man müsste doch jeden Moment mit voller Konzentration wahrnehmen können – jeden Schritt in einer fremden Stadt, jeden Ton aus einer Gasse, den kühlen Wind im Nacken, den Geruch von nassem Wetter oder von Hundescheisse, die eben unter dem Turnschuh eines Stadtläufers auseinander gequetscht wurde. Alledem, was doch da ist, schenke ich meistens zu wenig Aufmerksamkeit – zu schnell bin ich bereit, den Moment zu verlassen, um mich auf die Heimfahrt am Nachmittag, das Essen am Abend, die Ruhe der Nacht, den nächsten Tag einzustellen. Manchmal sind es ein paar Regentropfen, die mir kalt ins Gesicht schlagen – und schon entweiche ich aus der etwas ungemütlichen Gegenwart in eine wärmere Zukunft. Oder ich bin in Gedanken mit diesem oder jenem beschäftigt, das nichts mit dem Moment zu tun hat. Solcherlei muss sein, niemand kann ständig im Moment verharren, sonst wäre das Leben weder organisiert, noch bedacht, noch beträumt. Doch wie oft entschlüpfe ich dem Hier und Jetzt ohne alle Not? Wie oft kommt es mir vor, als sei mein Leben zu sehr ein ständiges Planen, Fürchten, Hoffen, Wünschen, Sehnen? Gerade wenn ich Momente erlebt habe, in denen ich weitgehend in der Gegenwart war, fällt mir hernach mein ständiges Wegdriften auf, mein Übergehen von dem, was doch im Moment am nächsten läge. Sicher, an sonnigen Tagen, wenn Frühlingsdüfte in der Luft liegen, fällt es mir leichter, das Präsens ernst zu nehmen – aber könnten graue Tage ohne olfaktorische Klischees in der Luft nicht genauso berührend sein? Sicher, eine allzu häufige Konzentration auf die Gegenwart wäre wohl eine schiere Überforderung – aber es könnte doch ein bisschen mehr sein.

Vielleicht ist es eine Frage der Zeit, vielleicht muss man den Moment über das Momentane hinaus dehnen, um ihn bewusster wahrnehmen zu können, ihn strecken, in die Länge ziehen. Sicher spielen Verlangsamung, Auswahl und Konzentration eine Rolle – wenn das nicht überhaupt das gleiche ist: Verlangsamung, Auswahl und Konzentration – eine Veränderung in der Zeit, im Raum, im Geist. Und als Voraussetzung für eine solche Bewegung braucht es vielleicht auch eine gewisse Sorglosigkeit – egal, wie begründet oder unbegründet sie einem im Moment erscheinen mag.

Diese Gedanken sind nicht neu. Und vielleicht sind sie auch ein wenig banal. Aber niedergeschrieben habe ich sie so noch nie. Und das Schreiben allein ist schon so ein Dehnmechanismus, der so etwas wie eine Vergegenwärtigung bewirkt.

Aber wie steht es denn jetzt mit diesem Wein – bin ich ganz bei ihm, wenn ich ihn trinke, ganz bei mir, wenn ich schreibe? Bin ich von Flasche zu Flasche im Moment unterwegs – oder schleudere ich in einem ständigen Abweichmanöver durch mein Leben? Mit der Zeit bringt der Riesling doch noch etwas Süsse heraus, bekommt die Pampelmuse ein paar Sonnenstrahlen ab. Jetzt riecht der Wein auch ein wenig nach Benzin und nach einem Körper, der im Schlaf ganz leicht schwitzt.

Getrunken am Donnerstag, 27. November 2014 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Au Monde du Vin» in Saint-Louis (€ 13.30 im Oktober 2014).

Nächste Flasche

Alsace Riesling Domaine Pfister Silberberg 

AOC, 2008, 12.5% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von André Pfister et sa fille Mélanie, Domaine Pfister in Dahlenheim (auf Karte anzeigen).

First Publication: 28-11-2014

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