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Im Schlafzimmer meiner Mutter in Riehen. (Samstag, 3. Januar 2015)

78. Flasche

Einen Schritt voraus

Alsace Riesling Josmeyer Les Pierrets 2007

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach Metall und nach einem überhitzten Feuerzeug. Mit der Bewegung treten Noten von feuchtem Travertin und Grapefruit dazu, die weisse Haut einer Orange, Badezimmerfrische. Im Mund ist der Riesling zunächst eher süsslich und weich, der Eindruck von Säure folgt erst nach einem intensiveren Kontakt mit den Schleimhäuten. Von innen schmecke ich einen milden Zitronenkuchen, der mit einem Lindenblütentee serviert wird. Der Wein hat eine sehr gut eingebundene, fast wie verarbeitet, fast wie gekocht wirkende Säure und eine leichte Bitterkeit im Nachklang, die ein wenig an Quitten denken lässt.

Auf dem Rückweg von Paris habe ich meine Mutter in Riehen besucht. Sie wird immer dünner, immer schwächer – und sieht dabei auf eigentümliche Weise doch gut aus, als lege die Krankheit eine Schönheit in ihr frei, die vorher nicht sichtbar war.

Ich sitze auf der Kante ihres Bettes. «Es geht abwärts», sagt sie: «Es geht jetzt nur noch abwärts». Ich halte ihre Hand. Ich weiss, dass ich sie nicht trösten kann. Immer wieder muss sie heftig rülpsen, als sei der Krebs dabei, Blasen in ihrem Magen zu schlagen, als gäre sie vor sich hin. Rülpsen und Sterben – die Dinge wollen nicht recht zusammenpassen. «Ihr kümmert euch doch um Vater, wenn ich nicht mehr da bin», flüstert sie: «Weisst du, das wird schlimm sein für ihn.» Sie flüstert wohl weil er im Zimmer nebenan an seinem Computer sitzt. Es überrascht mich, dass sie das sagt. Doch dann kommt es mir vor, als ziehe sie etwas Besänftigendes aus dieser Idee – ganz als stelle sie sich ihre Absenz als eine Art Weiterleben vor, ein Weiterleben als Leerstelle, als Manko.

Meine Mutter liegt im Sterben – was könnte bedeutender sein? Und trotzdem hat die Situation auch etwas Banales, weil ich banal in ihr bin, weil ich mich als der Träger von etwas fühle, das auf seltsame Weise nicht zu mir gehört. Es ist mir als trüge meine Seele ein künstliches Gebiss. Vielleicht hat das damit zu tun, dass meine Mutter mir immer einen Schritt voraus ist. Sie weiss schon, was für Gefühle ich habe, noch ehe sich bei mir einstellen können.

Sie drückt meine Finger und es schmerzt, denn ich habe mir an Weihnachten eine Brandverletzung zugezogen, die einfach nicht richtig verheilen will. Doch wie könnte mein kleiner Schmerz neben ihrem enormen Leiden etwas anderes sein als einfach nur lächerlich.

Neben ihrem Bett, etwa auf Kopfhöhe, hängt ein Zettel am Schrank, auf den sie mit ihrer klaren Handschrift ein Zitat geschrieben hat: «Raffael Kubelik zu Edi Brunner: ‹Wichtig ist, dass man die Ernte einbringt›.» Ich frage sie, was denn die Ernte sei. Sie zögert einen Moment, als erwarte sie, dass ich mir die Antwort selbst gebe. «Na ich denke ihr», sagt sie dann und dreht einen Kreis mit dem Kinn, der ihre drei Söhne beschreiben soll. Noch einmal drückt sie fest meine Hand.

Das Letze, was ich gerade noch sehe, bevor ich ihr Zimmer verlasse, ist wie sich ihr Gesicht verzerrt und ihr die Tränen in die Augen schiessen. Sie ist mir wirklich immer einen Schritt voraus.

Mit der Zeit nimmt die Präsenz der Sonne in dem Wein zu. Es ist als hätten die Zitronen und Pampelmusen lange in der Wärme gelegen, als sei der Steinboden ein wenig überhitzt. Ja, irritierenderweise entwickelt der Riesling sogar einen kleinen Beigeschmack, der an Fisch denken lässt. Mit manchen Dingen rechnet man einfach nicht.

Getrunken am Samstag, 3. Januar 2015 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Au Monde du Vin» in Saint-Louis (€ 24.00 im Oktober 2014).

Nächste Flasche

Alsace Riesling Josmeyer Les Pierrets

AOC, 2007, 12.5% Vol.

100% Riesling

Weisswein aus dem Elsass (Frankreich), produziert von Josmeyer & Fils in Wintzenheim (auf Karte anzeigen). Vin issu de raisins de l’agriculture bio-dynamique.

First Publication: 4-1-2015

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