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Was könnte das sein, ein «poetisches» Leben? Und muss das «Poetische» in Anführungszeichen stehen? Blick durch ein Fenster in ersten Stock der Villa Rot in Burgrieden. (Donnerstag, 21. Januar 2016)

101. Flasche

Ein poetisches Leben

Cahors Château de Haute-Serre 2011

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach feuchtem Keller und Lakritze. Mit der Bewegung öffnet sich eine überreife Pflaume, die sich in Hustensaft verwandelt, um sich dann wie ein in der Luft versprühtes Fruchtparfum aufzulösen. Der Duft hat etwas Unfassbares, der Wein entzieht sich ständig: Ich ahne eine gewaltige Frucht, doch wenn ich sie riechend zu fassen suche, dann strecke ich meine Nase plötzlich in ein frisch gereinigtes Badezimmer – wobei immerhin die Sonne durchs Fenster scheint. Im Mund ist der Cahors leicht süsslich mit beherrschten Tanninen und einer etwas bitteren Note im Abgang.

Von innen hat er ein geheimnisvoll würziges Fruchtaroma – ich denke an ein Mus aus Birnen und Pflaumen, das mit Pfeffer, einer Gewürznelke und Schnaps während Stunden eingekocht wurde, über einem offenen Feuer. Das geschah vor ein paar Tagen allerdings. Schmatzt man nur ganz wenig Wein durch den Mund, gibt der Cahors eine frivole Kinder-Kaugummi-Note Preis, künstliches Himbeeraroma.

Der Todestag meiner Mutter rückt näher – und damit auch der Gedanke an meinen eigenen Tod. Heute früh, während mir auf dem Fahrrad die Nase in der Kälte davonlief, hat mich eine alte Frage beschäftigt: Was möchte ich dereinst im Blick zurück auf mein Leben sagen können? (Jenseits der weltmännischen Behauptung, dass ich ein paar gute Weine getrunken und grossartige Frauen geliebt habe – auf meine Weise natürlich.) Die Antwort, die mir heute einfiel, war neu: Ich möchte sagen können, dass ich ein schönes, ein poetisches Leben geführt habe.

Der Begriff des «Poetischen» ist mir im Zusammenhang mit meiner Vita noch nie in den Sinn gekommen. Und ich habe mich den ganzen Tag lang gefragt, was ich damit wohl meine – das Ergebnis, das natürlich ein provisorisches ist (weil alle Gedanken, sosehr sie einem manchmal nachlaufen, ja doch immer nur vorläufig sind): «Poetisch» ist das Leben für mich, wenn ich mich mit jenen Fragen beschäftigen kann, die ich für relevant halte. Zuvorderst mit der Aufgabe, meine Wahrnehmung immer wieder von all den multiplen Verblendungen zu befreien, die uns das Leben als eine Reihe von Wiederholungen erscheinen lassen – und die kleinen Verschiebungen ernst zu nehmen (übertrieben ernst vielleicht gar), die mich jeden Tag als jenes Abenteuer erfahren lassen, dass er eigentlich ist. Das Projekt eines «poetischen» Lebens kommt mir jetzt gerade sehr anspruchsvoll vor – und ganz einfach zugleich.

Heute fuhr ich von Zürich per Bahn und Bus nach Burgrieden im Süden von Ulm, um dort im Museum Villa Rot mit tiefgefrorenen Füssen und immer noch triefender Nase durch eine Ausstellung mit dem schönen Titel «Fleischeslust» zu wandeln. Gut fünf Stunden hin, gut fünf Stunden zurück, mit einem Dutzend Umsteigevorgängen dazwischen. Und was ich erlebt habe, will ich jetzt diesem Glas erzählen.

Wenn ich den Cahors mit Schwung an den Gaumen schlürfe, dann schmeckt er plötzlich frischer und fruchtiger. Das zweite Glas ist dann breiter, dunkler, feuriger und blutiger – der Wein hat auf jeden Fall viel zu bieten. Nach einiger Zeit steckt meine Nase in einer Schachtel mit Kakao – und im Mund nehme ich jetzt eindeutig sehr reife Johannisbeeren wahr. Mit jedem Glas wird es wärmer am Lagerfeuer der Geschichten. Mit jedem Schluck wird aber auch weniger deutlich, was ich ihm erzähle und was er mir zu sagen hat.

Getrunken am Donnerstag, 11. Januar 2016 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Jelmoli» in Zürich (Fr. 26.00 im September 2015).

Nächste Flasche

Cahors Château de Haute-Serre

AOC, 2011, 15% Vol.

100% Cot (?)

Rotwein aus dem Südwesten (Frankreich), produziert von G.F.A. Georges Vigouroux in Cieurac (auf Karte anzeigen). Mit Aufkleber «Tête de Cuvée». Auf der rückseitigen Etikette heisst es: «Produit sur un site extraordinaire, une seule et même parcelle de 60 hectares, le vin du château de Haute-Serre est vinifié à l'ancienne et élevé en fut de chêne.»

First Publication: 22-1-2016

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