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In seiner 19. «WoZ»-Kolumne vom 24. November 2005) gibt sich José Maria geschlagen – aufs angenehmste von seinen Liebesgefühlen. Wissenschaftlich gesehen dauert der biologisch ja nicht vollkommen zweckfreie Zustand des Verliebtseins maximal drei Monate – dann schafft der Körper diesen Stress nicht mehr und fährt die hormonellen Bremsfallschirme aus. Soviel zur Mechanik. Doch wie wenig ist damit gesagt.
Ein Frosch sitzt auf einem Seerosen-Blatt.

19. Ein Opfer der Hormone («Wir, das Tier»)

Es gibt Zustände, in denen man besser nicht schreiben sollte: weder über Kunst noch über das Kochen, weder über Bildstrategien noch über Beleuchtungsfragen – und schon gar nicht über Geistesblitze. Zum Beispiel wenn einen der Schwindel gepackt hält, wenn man völlig übermüdet oder ohne Appetit ist, wenn Verwirrung im Kopf und Aufregung in der Lendengegend herrscht. Der schreibtechnisch ungünstigste Zustand aber ist wohl jener, bei dem sich all diese Symptome auf unerklärliche Weise mit einem völlig irrationalen Glücksgefühl vermischen.

Nun sind Glücksgefühle ja wohl nie sehr rational. Dieses aber ist auf besondere Weise unvernünftig, denn es begleitet als Böschung aus duftenden Lippenblütlern den Weg von der Freiheit in die Abhängigkeit. Und dabei merken wir ja selbst, dass wir mehr und mehr Ketten an uns legen. Doch anstatt uns frei zu schlagen, fügen wir mit verzücktem Lächeln Glied um Glied, Schloss um Schloss an unser Eisenkleidchen an: Es lebe die Gefangenheit, nieder mit Houdini. - Ausserdem: Ist man nicht sowieso immer abhängig? Zumindest von sich selbst? Und ist es da nicht geradezu grosszügiger, auch mal von anderen abzuhängen – von ihrer Zeit, ihrer Zuneigung, ihren Zärtlichkeiten? Eben. - Und jetzt, hören wir da nicht Carlos Santana? Leise säuselt uns seine Stimme durch den Dampf des schwarzen Marokkaners ermunternde Worte zu: «One chain don't make no prison – two wrongs don't make no right». «One chain» – aber reicht uns denn eine Kette? Bei Gott nein: Wir wollen Gefängnis total. - Der eben angesprochene Zustand ist natürlich jener der Verliebtheit – oder besser des Verliebtseins. Denn mit «heit» hat die Sache herzlich wenig zu tun - mit «sein» aber schon, mit «sein oder nicht sein», mit «ich oder du sein», mit «bei dir sein», «mit dir sein», «in dir sein», «dir sein». Wissenschaftlich gesehen dauert der biologisch ja nicht vollkommen zweckfreie Zustand des Verliebtseins maximal drei Monate – dann schafft der Körper diesen Stress nicht mehr und fährt die hormonellen Bremsfallschirme aus. Soviel zur Mechanik.

An dieser Stelle müsste dieser Beitrag eigentlich zu Ende sein, müsste ein Schild im Text baumeln auf dem geschrieben steht: «Bin gleich zurück». Reden wir also von etwas anderem. Nur von was denn? Was interessiert uns denn ausserdem noch? Der Alltag fühlt sich derzeit an als stünden wir in einem Raum, dessen vier Wände aus lauter Fenstern bestehen – und alle sind sie weit geöffnet. So, im Durchzug unserer eigenen Lebenskonzepte, ist die grosse Veränderung wirklich da, ist ich ein anderer, sind wir ein Tier. Das Tier. Und vor uns die weite Steppe des Lebens. Freiheit, jawohl. Auch wenn wir in Ketten liegen, fühlen wir uns frei wie nie. Und wir sind, wie nie - volle Pulle: Ängstlich und voller Mut, verletzbar und unverletzlich zugleich. – Und die Kunst? Und das Bild? Schliesslich ist das hier eine Kunstkolumne - und schliesslich haben wir Verpflichtungen, haben wir dies und jenes versprochen. Eben, wir, das Tier kennt keine Rücksicht und keine Pflicht, trabt frei wie das Einhorn durch den Zauberwald – und wenn da ein Harry Potter steht, dann kicken wir den Lehrling mitsamt Besen durch die Luft.

Wir benehmen uns seltsam, ja. Egal, worum es beim Gespräch mit Freunden geht, wir kommen auf tausend Schleichwegen immer wieder zu unserem Thema zurück. Und wehe den Freunden, die nicht mit hellster Begeisterung reagieren. Nie war Freundschaft so gefährdet wie jetzt. Höchstwahrscheinlich ist das alles ziemlich peinlich. Doch gibt es einen besseren Moment, das Peinliche zu wagen? Und ist das Peinliche nicht das, was aus geheimen Wünschen reale Sehnsüchte macht? – «Liebe ist der einzige Schwindel, dem ich Dauer wünsche», hat vor rund hundert Jahren Walter Serner als «Letzte Lockerung» in sein «Hand bre vier für Hochstapler» notiert. Nein, von «Lust» hat er gesprochen, nicht von «Liebe». Doch auch Zitate beugen sich der Macht des Tiers. – Nun sitze ich hier im Garten meiner Schwester auf der schönsten Insel der Welt. Es ist heiss und ich warte – ängstlich, voll fiebriger Aufregung und ganz nebenher überzeugt, dass ich jede hier geschriebene Zeile feierlich bereuen werde. Es gibt eben wirklich Zustände, in denen man besser nicht schreiben sollte – und es doch mit grösster Begeisterung tut.

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 24. November 2005, Nr. 47 / S. 17.

Ein zauberhaft duftender Weg in die Abhängigkeit.
Ein Frosch sitzt auf einem Seerosen-Blatt.