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In seiner 3. «WoZ»-Kolumne vom 30. Januar 2003 denkt José Maria mit ganz und gar rauchfreiem Kopf über das Thema Fiktion nach. Dabei tritt er durch eine Tabakfabrik in ein Kino ein, um mit einer Schachtel Popcorn im Arm den giftigen Geifer von Godzilla auf seine Realität hin zu prüfen – gefahrlos, denn wenn es ihm zu heikel wird, ja dann zieht er «einfach den Stöpsel und der Raum zischt mitsamt Monster wie ein Luftballon davon.»
Eine Hand ragt aus einem goldenen Bilderrahmen.

3. Fiktion («Wenn Godzilla kommt»)

Ich staunte nicht schlecht, als ich im vergangenen Sommer einen Brief aus dem Präsidialbüro von Santa Lemusa erhielt – unterschrieben von Lucien Trebeau höchstpersönlich. Ungläubig wischte ich erst einmal mit dem feuchten Finger über die Unterschrift – doch die war echt. In dem Brief wurde zuerst mein Einsatz für die Kultur der Insel gelobt, dann war von einem Kongress die Rede, der im kommenden Winter stattfinden sollte. Und zuletzt erhielt ich nicht etwa einen neu eingerichteten Staats-Kulturpreis, nein, ich wurde lediglich aufgefordert, einen Text zum Thema «Fiktion» zu schreiben – und das binnen einer Woche.

Nun schlägt man einem Präsidenten nichts ab. Schliesslich ist es doch selten genug, dass ein solcher Staatsmann, der sogar schon die Hände des Papstes geküsst hat (oder war es umgekehrt?), sich persönlich an einen wendet. Also setzte ich mich hin, nahm einen Stift zur Hand, legte Papier auf mein Knie, stellte eine Tasse Kaffee in Reichweite hin und begann: «Fiktion kommt vom lateinischen fictio, respektive dem Verb fingere, das bilden, formen, ersinnen oder erheucheln heisst - auch Fingieren». «Erheucheln?», «Fingieren?», plötzlich geriet ich ins Stocken. Wenn Fiktion bedeutete, dass etwas fingiert sei, dann liess sich die Fiktion so wohl kaum mehr von der Illusion oder vom Schein unterscheiden.

Ich dachte also weiter nach – und war schnell einmal ein bisschen verzweifelt. Da ich erst vor wenigen Tagen mit dem Rauchen aufgehört hatte, schweiften meine Gedanken ab zu einem Bild, das ich unlängst in einem Fotoband entdeckt hatte: Es zeigte eine Arbeiterin aus einer kubanischen Tabakfabrik, die während einer Pause eine Zigarre von der Grösse einer Salatgurke genoss. Auch Rauch ist eigentlich eine Art von Fiktion, dachte ich, da er in der Luft Figuren formt.

Doch auch damit kam ich nicht weiter. Das Bild des Rauches allerdings liess meine Gedanken ein altes Kino betreten – feine Rauchschwaden, die über den Köpfen der Zuschauer im Licht des Projektionsstrahls tänzeln. Da gab es also wohl doch irgendeine Verbindung. Das Kino wird ja gerne als Illusions-Maschinerie beschrieben. Um Illusion im Sinne einer umfassenden Täuschung unserer Sinne aber geht es wohl nicht. Denn ansonsten würden wir ja wohl kaum sitzen bleiben und stoisch an unserem Popcorn nagen, wenn die riesigen Zähne von Godzilla vor uns im Panorama-Format auftauchen und uns gleichzeitig sein giftiger Speichel in perfekt abgemischter Dolby-Stereo-Qualität in die Ohren tropft. - Natürlich wissen wir, dass dieser Godzilla nur das Produkt japanischer Trick-Techniker ist und erkennen ausserdem, dass die Vulkanlandschaft, in der das Urtier seine Eier legt, von fleissigen Kunststudenten gemalt worden sein muss. Und doch ist es auch nicht die Mache des Filmes, die uns im Kino beschäftigt - denn sonst wäre ein Film ja nie imstande, in uns die verschiedensten Emotionen zu provozieren. 

Das Kinoerlebnis findet also irgendwo zwischen der Illusion oder dem Schein und der Realität statt. Die Bühne, auf der sich dieses Erlebnis abspielt, hat kein Pendant in der Aussenwelt - es sind nicht die Bretter, die die Welt bedeuten, sondern es ist die Welt und es ist sie doch auch wieder nicht. Diesen Ort könnte man vielleicht den Ort der Fiktion nennen.

So weit, so gut. Das war ein Ansatz – und doch war das noch keine Antwort auf die Frage, wie denn der Mensch zu dieser Fiktion kommt. Also tat sich wieder die grosse Leere in mir auf und im Kampf mit dem Nikotin-Tiger stiess ich wieder auf das Bild meiner Kubanerin mit dem glücklichen Gesicht und der Zigarre in der Grösse einer Schiffskanone. – Also doch der Rauch. Vielleicht war das die richtige Antwort. So wie unser Mund den Rauch formt, so bilden unsere Gedanken, wenn wir etwa Godzilla vor uns im Film auftreten sehen, einen Raum mich an jene Zeit im letzten Sommer erinnere, kommt für dieses Monster. Weil dieser Raum unser Raum ist, können wir da herrlich mit dem Gruseln spielen – wird es uns zu gefährlich, dann ziehen wir einfach den Stöpsel und der Raum zischt mitsamt Monster wie ein Luftballon davon. Die Wirkung von Fiktion beruht demnach auch auf der menschlichen Fähigkeit, mit Grenzen zu spielen. Diese Fähigkeit könnte man mit der Wirkungsweise eines komplexen Schleusensystems vergleichen, in dem die Wasser der Illusion, des Scheins, der Phantasie und der Realität permanent in Bewegung sind und laufend neue Mischungen hergestellt werden, die dann das jeweilige Erleben bestimmen. 

An diesem Punkt wurde mir die Sache zu verworren. Da mir die kubanische Raucherin mit ihrer Zigarre von der Grösse eines Zeppelins immer öfter in den Sinn kam, schrieb ich dem Präsidenten einen Brief und bat ihn um Verzeihung. Heute allerdings, da ich mich an jene Zeit im letzten Sommer erinnere, kommt mir auch der Mann, der damals vergeblich der Fiktion auf der Spur war, selbst wie ein Stück Fiktion vor. Und das macht die Dinge schwierig. Denn wenn Sie das hier Lesen, dann bin ich, so wie ich jetzt gerade bin, mir selbst längst wieder zu einem Stück Fiktion geworden. Genauso dürfte es Ihnen ergehen - erinnern Sie sich noch, wer sie ganz genau waren, als sie mit der Lektüre dieser Zeilen begannen? Na also, es ist doch zu kompliziert.

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 30. Januar 2003 Nr. 5 / S. 20.

Diese Bühne ist die Welt, die ihre Bretter bedeuten – und das Brett.
Ein Mann kauert, halb verborgen hinter einem goldenen Bilderrahmen.