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In seiner 12. «WoZ»-Kolumne vom 30. September 2004 erinnert sich José Maria an den alten Gruwes, ein wandelndes Literaturlexikon. Dank Gruwes gewann die Welt der Literatur für Maria ganz enorm an Farbe, ja sogar die Buchstaben in den langweiligen Schulbüchern schienen plötzlich voller Versprechungen – einen kleinen Haken allerdings hatte die Sache: Gruwes konnte weder schreiben noch lesen.
Salzberg.

Eigentlich habe ich zur modernen Kunst nicht viel zu sagen. Viel lieber würde ich übers Essen reden. Zu einem Bild von Picasso fällt mir kaum etwas ein – erst ein in Kalparik-Milch gedünsteter Flügelfisch bringt meinen Wortschatz in Bewegung. Auch vor einem mit Masu-Linsen gefüllten Täubchen kann man stundenlang über Duft und Saft, Kruste und Füllung räsonieren. Was aber soll man angesichts eines Bildes sagen, auf dem bloss ein paar farbige Streifen zu sehen sind? - Trotzdem rede ich über Kunst, mal mit Freude, mal mit Grimm – und stets voller Hoffnung, im Trüben doch noch auf einen passenden Gedanken zu stossen. Allerdings hat das in meiner Heimat eine gewisse Tradition. Auf einer so kleinen Insel muss man auch mal über Dinge sprechen können, von denen man nicht viel versteht – sonst hat man sich schnell einmal nichts mehr zu sagen.

Einer, der das mit unvergleichlicher Brillanz zu praktizieren wusste, war Mihaly Gruweszcsikmihalyi. Ich lernte Gruwes, wie Mihaly meist gerufen wurde, während meiner Schulzeit kennen. Seine Eltern stammten wohl aus Ungarn und hatten sich während des Zweiten Weltkrieges auf Santa Lemusa niedergelassen. Gruwes trug einen wild wuchernden Vollbart, eine etwas zu gross geratene Hornbrille und war ein Genie. Man brauchte Gruwes bloss den Titel irgendeines Buches der Weltliteratur zu nennen - und sofort begann er, den Inhalt des Werkes zu resümieren. Gruwes war eine schier unendliche Quelle des Wissens, eine sprechende Bibliothek, eine literarische Insel mitten im smaragdgrünen Schaum des karibischen Ozeans. Für uns Schüler war das mehr als nur praktisch: Dank Gruwes gewann die Welt der Literatur ganz enorm an Farbe, ja sogar die Buchstaben in unseren langweiligen Schulbüchern schienen plötzlich voller Versprechungen. – Einen kleinen Haken allerdings hatte die Sache: Gruwes konnte weder schreiben noch lesen, da ihn seine Eltern aus einer übertriebenen Angst vor Verfolgung heraus nie auf eine Schule hatten schicken wollen. Was uns Gruwes da jeweils erzählte, war also nicht mehr und nicht weniger als seine persönliche Fantasterei zu einem beliebigen Titel der Weltliteratur. So behauptete er etwa, Homers «Odyssee» schildere das Leben eines Wüstenvolkes, das sich, fast gänzlich blind, mit Hilfe von übergrossen Nasen auf der Welt orientiere. Der «Decamerone» erzählte nach Gruwes die Geschichte eines orientalischen Sehers, der sein Schlafzimmer nie verliess und, düstere Prophezeiungen ausstossend, fünfhundert Jahre alt wurde.

«Romeo und Julia» waren zwei ungezogene Kinder, die von zu Hause ausrückten und sich prompt im Urwald verirrten. Sie wurden von einer Gorilla-Mutter gefunden, die ihre weitere Erziehung übernahm. Jahre später fielen sie in die Hände eines Wilderers – und wurden als Versuchstiere an einen Schweizer Pharmakonzern verkauft. «Warten auf Godot» – eine französische Gräfin verzehrt sich vor Sehnsucht nach ihrem um Jahre jüngeren Gemahl, der mit Maltesern in den Orient gezogen ist. In ihrer Verzweiflung geht sie eine Liaison mit ihrem Beichtvater ein und wird schwanger. Natürlich endet die Sache tragisch. «Der Mann ohne Eigenschaften» war nach Gruwes die Geschichte eines schmierigen Schauspielers, der um jeden Preis eine Politkarriere machen wollte – ganz ähnlich wie der schmächtige, in Sachen Sport jedoch überaus ehrgeizige Arbeitersohn in «Die Faust I und II». – All dies wusste Gruwes äusserst plastisch und mit viel Sinn fürs effektvolle Detail zu erzählen. Ja er war auch um Antworten nicht verlegen, wenn man ihn nach Einzelheiten zu Figuren oder Handlungen fragte. Die Glaubwürdigkeit seiner Darstellungen beruhte allerdings vor allem darauf, dass er sich nie widersprach: Hatte er einmal einen Titel mit einer Geschichte verknüpft, so blieb er konsequent dabei.

Ich habe Gruwes in den letzten Jahren aus den Augen verloren – und ich frage mich, ob er den Schülern von Santa Lemusa wohl immer noch als wandelndes Literaturlexikon zur Verfügung steht. Manchmal habe ich auch daran gedacht, seine Geschichten aufzuschreiben, vielleicht gar eine Weltgeschichte der Literatur nach Gruwes herauszugeben. Daran gehindert hat mich eigentlich immer vor allem der Umstand, dass er selbst sie nicht lesen könnte. – Die Erinnerung an Gruwes aber macht mir Mut, es immer wieder zu versuchen mit dem Schreiben über Kunst. Auf seine Weise hat er mir eindrücklich beigebracht, dass es der Moment des eigenen Sprechens ist, der zählt. Jener Moment, in dem wir uns von vermeintlichen oder auch tatsächlichen Erwartungen etwas zu lösen vermögen. Jener Moment, in dem wir anfangen, für Dinge nach Worten zu suchen, die uns wirklich beschäftigen. Und wenn es ein in Salzkruste gebackenes Berghuhn ist, das sich unseren Gedanken aufdrängt, dann will wohl auch das seinen Platz haben.

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 30. September 2004, Nr. 39 / S. 21.

Auch das will seinen Platz haben: Berge aus Salz.
Berge aus Salz.