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Los Angeles

Sopa do mundo

von Oskar Seugrem

Meine Urgrossmutter war Portugiesin und hat ihre Jugend in Baga verbracht, einem Dorf in Goa. Als ich zur Welt kam, lebte sie im Haus meiner Eltern in Les Balcons de la Bandole und war dort so etwas wie eine billige Haushälterin. Manchmal hat sie einen Eintopf gekocht, der jeweils viele Stunden lang auf dem Feuer stehen musste. Meine Ur-Oma sprach immer von ihrer Sopa do mundo, von ihrer ‹Weltsuppe›. Aus so einer Suppe, sagte sie, sei unsere Welt entstanden. Und auch jede Geschichte, die auf unserem Planeten erzählt werde, sei von der Sopa do mundo herausgespuckt worden und werde irgendwann auch wieder von ihr verschluckt. Ich war damals fünf oder sechs und habe ihr natürlich geglaubt – schliesslich war sie unvorstellbar alt und sah aus wie ein Stück Schwemmholz mit einem grossen, runden Bauch. Also stand ich oft stundenlang wie gebannt vor dem Herd und starrte auf den grossen Topf, in dem die Weltsuppe meiner Ur-Oma köchelte – wer wusste schon, vielleicht stieg plötzlich wieder eine Welt aus der Suppe auf, oder wenigstens eine Geschichte. Und das wollte ich auf keinen Fall verpassen.

Ich habe lange an die Weltsuppe geglaubt. Und auch das Kichern meiner Oma, wenn sie von der Sopa do mundo sprach, hat mich nicht in meinem Glauben irritiert – im Gegenteil: Die glucksenden Geräusche, die sich irgendwo im Faltenwald ihres Halses formierten, waren für meine Ohren geradezu die lithurgischen Gesänge der grossen Weltsuppenreligion. Seltsamerweise erinnere ich mich gar nicht an den Geschmack der Suppe – ja ich bin weiss nicht einmal, ob ich überhaupt je davon gegessen habe. Irgendnwann ist meine Ur-Oma dann gestorben – mit einem letzten Kichern, das weiss ich noch genau. Dann war erst einmal Schluss mit Weltsuppe. Meine Eltern und meine Grosseltern waren Akademiker und haben sich nie fürs Kochen interessiert. Es gab meist Essen aus der Dose oder wir gingen ins Restaurant – ein Rezept wie die Sopa do mundo war ihnen auf jeden Fall viel zu kompliziert.

Auch ich vergass die Weltsuppe. Ich studierte Latein und beschäftigte mich Transformations-Mythen in der Antike. Selbst als ich über die Ursuppe in den Metamorphosen von Ovid promovierte, kam mir dabei die Sopa do mundomeiner Ur-Grossmutter nicht in den Sinn. Dann aber habe ich eines Tages ein alte Ovid-Ausgabe aus meiner Schulzeit auf dem Dachboden meiner Eltern gesucht – und dabei bin ich auf ein altes, fleckiges Kochbuch gestossen. Es gab verschiedene Rezepte darin, die mit handschriftlichen Notizen versehen waren – ganz offenbar hatte jemand das Kochbuch intensiv benutzt. Eine Doppelseite aber war mit ganz besonders vielen Korrekturen und Kommentaren vollgekritzelt: sie enthielt ein Rezept für Sorpotel, ein Spezialität aus Goa, die vor allem aus Innereien vom Schwein besteht und sehr lange gekocht werden muss. Auch wenn ich nicht ganz sicher war, ob die Kritzeleien wirklich von der Hand meiner Ur-Grossmutter stammten – ich wusste doch, dass das dies ihre Sopa do Mundo war. Ich nahm das Kochbuch mit und vergass dabei den gesuchten Ovid. Noch in derselben Woche kochte ich die Suppe zum ersten Mal. Welten sind aus ihr wohl keine hochgestiegen, Geschichten auch nicht – aber auf eine gewisse Weise war die Suppe mit daran schuld, dass ich das Latein an den Nagel hängte und mich zum Metzger ausbilden liess.

Ein Rezept für Sorpotel