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Das Leporidrom (kurz Lépit) von Saint-Piere im Süden der Insel wurde ursprünglich als Sportpalast entworfen.
Grosse Halle mit viel Marmor und Rolltreppen.

Das Leporidrom von St-Pierre

Es ist wohl einer der seltsameren Orte auf Santa Lemusa: Lépit, die Kampfarena von Saint-Pierre im Süden der Insel. Ein Bau wie aus dem Musterbuch der siebziger Jahre: Eine Beton- und Stahlkonstruktion, die sich mit kühnen Schwüngen und ohne einen rechten Winkel gegen den Himmel reckt. Ein riesiges UFO über einer Treppenanlage, wie man sie eher in Brasilia oder in der ehemaligen Sowjetunion erwarten würde. Im Innern Säle so gross, das der Abwart in ihnen mit einem Fahrrad unterwegs ist, Rolltreppen, Besuchertribunen, Anzeigetafeln, Schleusen etc.

Kampf um Ruhm und Ehre. Und all dies wofür? Weder für Konzerte noch für Sport, weder für Kongresse noch für politische Versammlungen – sondern einzig und allein für den Hasenkampf. Nein, Sie haben nicht falsch gelesen: Während die ganze Karibik von Kuba bis Trinidad ihre aggressivsten Hähne in die Arenen schickt, sendet man auf Santa Lemusa speziell für diesen Zweck trainierte Hasen in den Kampf um Züchterruhm und Ehre. – Am Sonntagnachmittag strömen Männer und Frauen zu Hunderten in das Leporidrom (kurz Lépit) von Saint-Pierre. Dann sind da überall kleine Boutiken aufgestellt, werden Rum-Getränke und Esswaren feilgeboten. An Ständen informieren die Züchter über ihre Hasen und da und dort hängen fotografierte oder sogar gemalte Porträts der erfolgreichsten Protagonisten aus diesem oder jenem Stall. Mit Drinks und allerlei Informationen ausgerüstet treten die Fans dann in den zentralen Saal, wo sich die eigentliche Arena befindet. Hier können sie Wetten abschliessen – und zwar in beliebiger Höhe. Schon mancher, so heisst es, hat hier in wenigen Stunden seinen gesamten Monatslohn verspielt. Derweilen andere sich ganze Häuser, Jachten oder Autos erwettet haben sollen. Auch Lucien Trebeau, seit 1996 Präsident von Santa Lemusa, soll hier im Jahr 2002 mit kleinem Einsatz eine riesige Summe gewonnen haben – die er dann grosszügig für die Rennovation der Arena zur Verfügung stellte (vielleicht auch ein Grund für seine Wiederwahl im gleichen Jahr).

Lapen ist gleich lapen. Der lemusische Kampfhase ist eigentlich ein Kaninchen, doch diesen Unterschied macht man auf Santa Lemusa nicht: Lapen ist gleich lapen, ob wild oder nicht, ob mit langen oder kurzen Löffeln. Der Lapen atak, das lemusische Kampfkaninchen, ist das Resultat mannigfacher Kreuzungen. Die Züchter schwören auf das Erbgut des Dan majik – eines legendären Kaninchens aus der Mongolei mit einem Stammbaum, der bis zu den Hoftieren von Qara Qorum zurückreicht. Noch in grosser Verdünnung soll eine Verwandtschaft mit diesem Magischen Zahn die gewünschte Aggressivität und Widerstandsfähigkeit garantieren. Verständlich, dass ein jeder Züchter dafür sorgt, dass der Dan majik in den Stammbäumen seiner Tiere vorkommt.

Mit Kraftnahrung, Proteinen, Vitaminen, Ölen und täglichem Training werden die Hasen für die Kampfsaison (Januar bis Mai) in Hochform gebracht. Jeder Züchter hilft selbstverständlich auch noch mit allerlei Geheimrezepten und Ritualen nach, die vom regelmässigen Bad in Milch über das Rasieren der Ohrspitzen oder spezielle Massagen bis zum Verabreichen magischer Tinkturen reichen. Wenn die Hasen schliesslich in die Arena hoppeln, dann strotzen sie jedenfalls vor Kraft und Selbstsicherheit. 

Ungeheure Kraft. Aussenstehende können sich kaum vorstellen, was für eine Kampfmaschine man aus einem Kaninchen machen kann. Man erzählt sich sogar, dass einst ein Hase namens Siyag (Zickzack) so kräftig und kampflustig wurde, dass er auf der Fahrt zum Leporidrom das Auto seines Züchters zum Umsturz brachte – und mit ihm über die Klippen der Côte Chimerik ins Meer hinab donnerte. Der Züchter kam dabei ums Leben, der Hase aber soll überlebt haben. Wenn sich heute vor dieser Küste im Westen der Insel ein Netz losreisst, dann schieben die Fischer das nämlich gerne dem Mal Siyag in die Schuhe – und man weiss nie so recht, wie ernst sie das eigentlich meinen.

Rituale und Traditionen. Der Hauptsaal der Arena von Saint-Pierre bietet Platz für mehr als tausend Zuschauer. Bevor die eigentlichen Kämpfe beginnen, werden verschiedene Prozeduren abgewickelt – hierfür sind im zentralen Ring der Arena Tische aufgestellt, an denen die Verantwortlichen sitzen. Zunächst führen die Züchter ihre Hasen dem Awbit (Schiedsrichter) vor, der ihre Kampffähigkeit prüft. Beim Mysié Ptimigram (etwa Herr Milligramm) werden die Tiere auf 10 g genau gewogen und vom Dirèktè (Direktor) des Lépit in verschiedene Gewichtsklassen und Kampfpaare einteilt. Auf einer elektronischen Tafel kann man lesen, wer in welcher Reihenfolge gegen wen antreten wird. Anschliessend werden die Kontrahenten vom Pwòptér (eine Art Reinigungs-Mann) mit einem in Äther getränkten Lappen von Fett und eventuellen Giftstoffen befreit. Um jede Manipulation auszuschliessen, sind jeweils auch die Züchter des gegnerischen Hasen bei dieser Reinigung als Zeugen mit dabei. Zum Abschluss der Vorbereitungen prusten die Züchter ihren Kampfstars vielleicht noch etwas Rum ins Gesicht oder sie flüstern ihnen ein paar Beschwörungsformeln in die Ohren. Wegen dieser Rituale ist auch das Filmen und Photographieren in der zentralen Arena strengstens verboten – befürchten die Züchter doch, dass Spione ihnen ihre Tricks abschauen könnten.

Kampf nach klaren Regeln. Wenn alle Hasen endlich bereit sind, dann wird der Ring geräumt und der Kampf kann beginnen. Mit dem Schlag einer Glocke werden die Kontrahenten in der rund zehn Meter weiten Arena bèk à bèk gesetzt. Das Publikum johlt und die Züchter rufen ihren Tieren scharfe Befehle zu. Auf Kampf trainiert und von der Atmosphäre zusätzlich angestachelt, springen die Hasen aufeinander los – die Stirn voran rammen sie den Schädel des Kontrahenten Wieder und wieder – bis einer der beiden in Ohnmacht fällt oder so verwirrt ist, dass er zum Rand der Arena läuft. Kaum hat er das Holzband berührt, das die Arena umgibt, hat er auch schon verloren. Ein Kampf dauert höchstens zwanzig Minuten – manche sind aber schon nach wenigen Sekunden zu Ende. Halten beide Hasen die ganze Kampfzeit durch, dann entscheidet eine fünfköpfige Jiri nach Stil und Haltung, wer den Kampf gewonnen hat. Unnötig zu sagen, dass ihre Entscheide oft zu massiven Protesten beim Publikum oder den unterlegenen Züchtern führen. Wenn ein Kampf zu blutig wird, dann kann der Schiedsrichter das Gemetzel auch unentschieden beenden.

Ausserhalb der Kampfsaison steht die Arena von Saint-Pierre leer. Zwar könnte man in dem grossen Bau auch gut sportliche Wettkämpfe oder diverse Anlässe durchführen – die Bestimmungen des Lépit-Stifters aber schliessen jede andere Nutzung aus. Es war Varham Barseghian, ein reicher Händler armenischer Herkunft, der die Arena von Saint-Pierre in den 1970er Jahren stiftete. Tatsächlich wurde das Lépit ursrünglich als ein grosser Sportpalast gebaut, wo vor allem das Handball-Team von Santa Lemusa (Lé Dyabvè, die Grünen Teufel) trainieren und Wettkämpfe ausfechten sollte. In den 1970er Jahren hatte dieses Team olympisches Niveau erreicht – nicht zuletzt wohl auch dank der Zuwendungen seines mächtigsten Fans, Varham Barseghian.

Massenprügelei auf dem Sportfeld. Anlässlich eines Tourniers in Miami allerdings verlor Simon Zidima, der damalige Mannschaftskapitän der Grünen Teufel, die Beherrschung und rammte einem seiner Gegner den Kopf in den Bauch. Das führte zu einer Massenprügelei auf dem Sportfeld, bei dem auch einige Zuschauer verletzt wurden. Wegen dieses Zwischenfalls wurde die ganze Mannschaft disqualifiziert und durfte folglich 1980 nicht an den Olympischen Sommerspielen in Moskau teilnehmen. Barseghian war derart enttäuscht und angewidert, dass er nicht nur den Grünen Teufeln sofort jegliche Zuwendung strich – trotzig wie er war, ändert er auch die Bestimmung seines Sportpalastes, der fortan ausschliesslich für Hasenkäpmpfe genutzt werden sollte. Die Sportfreunde der Insel waren schockiert – die Anhänger des Hasenkampfs aber machten aus der Arena von Saint-Pierre das Zentrum ihrer Passion. – Die Kampfhäschen werden übrigens auch gegessen – ganz genauso wie die Stiere, die in den Arenen Spaniens ihr Leben gelassen haben. Und natürlich ist es eine besondere Ehre, einen ehemaligen Champion auf dem Teller zu haben. «Lapén Lépit» (Kaninchen in Rum) lässt sich allerdings auch mit einem gewöhnlich sterblichen Hasen zubereiten – selbst wenn das Rezept aus dem Restaurant «Kompè Lapen» in Saint-Pierre kommen, das tatsächlich manchmal auch die ehemaligen Heroen des Leporidroms zubereitet.

Ausserhalb der Saison wirkt das Leporidrom von Saint-Pierre verlassen.
Detail einer modernistischen Architektur.

First Publication: 1-2007

Modifications: 17-2-2009, 30-9-2011