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Man kann nicht alles wissen

Am schlimmsten ist es im Frühling. Den ganzen Winter hindurch waren sie in Schichten aus Stoff, aus Gummi und Leder eingepackt, oft grauweiss und gefühllos vor Kälte. Dann aber kommt der Tag, an dem die Sonne zeigt, dass sie mehr kann als bloss wie ein fahler Dotter in einem milchigen Winterhimmel herum zu lümmeln. Man fragte sich ja schon: Braucht es dieses Gestirn überhaupt.

Solar Power. Wir spüren es auf den Armen, im Gesicht, im Nacken. Wir schliessen die Augen und fühlen wie sich die Glückshormone in unserem Körper ausschütten. Spring - als wäre etwas leck irgendwo. Prima vera. Und schliesslich tun wir es. In einem Anflug von Übermut packen wir sie zum ersten Mal aus - zum Beispiel in Venedig, zum Beispiel am Canale Grande. Sekunden später baumeln sie hin und her, zwei Bleichheiten über dem Petrolblau der Lagune: Sie sehen aus wie Boote, Boote mit Zehen, 5 Stück links und 5 Stück rechts, im Regelfall zumindest. Was uns zunächst irritiert, ist der Grössenunterschied: Während die kleinste Zehe wie ein unbeabsichtigter Zusatz wirkt, ein Versehen, ein Scherz, schiebt sich die grösste riesenhaft und frech wie eine etwas zu laute Behauptung in die Frühlingsluft. Was hat sich die Natur nur dabei gedacht? Denkt sich die Natur überhaupt etwas? Man kann nicht alles wissen.

Aber die Füsse, was für ein unmotiviertes Hin und Her am anderen Ende von uns. Spüren wir sie denn überhaupt? Nicht so richtig, Gut möglich, dass das gar nicht unsere Füsse sind.

Vor ein paar Jahren setzte jemand ein Krokodil in der Lagune aus. Grosse Aufregung in ganz Venezien. Schon sah man, wie das Monster die Musiker auf der Piazza San Marco verschlang - mitsamt Geige und Klavier. Nach wenigen Tagen verhedderte sich das Tier in einer Tintenfisch-Reuse - und ging kläglich zugrunde. Doch wer weiss, vielleicht hatte es vorher Eier gelegt. Vielleicht ist die Lagune voller Krokodile, die nur darauf warten, dass jemand seine Füsse über dem Wasser baumeln lässt. Zweifellos wäre der Schmerz ein Beweis, dass es sich um unsere Füsse handelt. Nur die Füsse wären dann natürlich weg. Ob man wohl auf Schmerzen stehen kann wie auf Füssen? Man will das nicht wissen, wirklich lieber nicht.

Hin und her, hin und her über dem nervösen Stahl der Lagune. Fast sieht das von oben aus als schreite man über das Wasser. In Venedig wäre das praktisch. Wasser ist hier überall, aufdringlich fast. Als wolle uns die Stadt daran erinnern, dass wir nicht von den Bäumen gefallen sind, sondern einst aus dem Wasser krochen - in der Gestalt amphibiöser Pioniere. Wir konzentrieren uns, bilden urzeitliche Runzeln auf der Stirn, spannen den Nacken an, spreizen die Finger - aber nein, wir spüren den Lurch in uns nicht mehr. Unmöglich, dass wir uns jetzt ins Wasser stürzen und am Kiel der Vaporettos mit den Krokodilen schmusen. Das Wasser ist unser Medium nicht mehr, schon sehr lange nicht mehr. Wir haben jedes Geschick der Bewegung in ihm verloren - nichts illustriert das besser als unsere Schwimmkünste, die selbst bei Weltmeistern von einer peinlichen Plumpheit sind.

Dafür haben wir jetzt Füsse. Sie baumeln hin und her über dem öligen Spiegel der Lagune, zwei fahle Gondeln, die einen ganzen Winter lang Trauer trugen. Mehr als jedes andere Schiff bringt die Gondel ihren Fahrer in eine Haltung, die aussieht als schreite er über das Wasser - und also gerade dadurch illustriert, dass wir eben nicht auf dem Wasser gehen können. Nicht einmal das. Was hat sich der Liebe Gott nur dabei gedacht? Denkt der Liebe Gott? In der Bibel steht, dass er schuf und befahl und bestrafte - aber heisst es irgendwo: Gott dachte nach? Man muss nicht alles wissen.

Vielleicht denken ja die Füsse, die da über der Smaragd-Pfütze der Lagune baumeln, hin und her, hin und her. Ob wir etwas davon merken würden, wenn unsere Füsse denken? Vielleicht denken sie über uns nach, wenn wir schlafen - heimlich. Vielleicht ist ihnen jetzt gerade schwindlig von dem ständigen hin und her. Vielleicht, vielleicht aber sind es doch nicht unsere Füsse. Man muss nicht alles wissen.

Eins aber ist sicher: Im Frühling ist es besonders schlimm.

Siehe auch

First Publication: 8-9-2011

Modifications: 17-2-2012, 20-6-2013