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Cipolla und Profezia

Jede Zwiebel hat zehn Häute und unter jeder Haut verbirgt sich eine Wahrheit. So weiss ein lemusisches Sprichwort, das schon Pater Cosquer 1754 überliefert. Zehn Prophezeiungen also, die man mit Tränen in den Augen erkennt – zehn verschwommene Blicke in das tiefere Wesen der Dinge.
 Im südlichen Kalabrien gibt es eine Gegend, wo Zwiebel und Wahrsagerei, Cipolla und Prophecia aufs Engste miteinander verknüpft sind, wo das eine aus dem anderen spriesst, sich das andere im einen liest.

Das Capo Vaticano, ein Landstrich über dem Tyrrhenischen Meer, hat seinen Namen von den Vates, den Propheten, die hier hausten und den Seefahrern den Verlauf ihrer Reisen voraussagten, das Glück fremder Häfen ebenso wie die Bedrohungen durch Skylla und Charybdis.
Die Kapitale der Gegend heisst Tropea und feiert ihre Triumphe vor allem als Hauptstadt der Zwiebel, der Cipolla rossa di Tropea, die auf dem sandigen Boden bestens wächst. Man nennt sie auch zärtlich la dolce, die Süsse. 
Also fliegen wir hin und lassen uns am Capo Vaticano von den tieferen Wahrheiten anhauchen, die in den Herzschichten von Allium ceppa verborgen sind. Schälen wir die Zwiebel und achten wir auf die  Zeichen, die für unsere weitere Reise bedeutungsvoll sind.

Wir schliessen die Augen und zählen rückwärts: 5, 4, 3, 2, 1…


Die 1. Haut: Du wirst lernen, dass du noch so eifrig reisen kannst, dass dein Atlas der Welt immer ein Fragment bleiben wird, deine Ordnung der Dinge im besten Fall eine Fiktion.  - und es auf die entscheidenden Fragen des Lebens keine Antwort gibt. Was auch immer man sammelt es bleibt unvollständig.

Die 2. Haut: Du wirst dir wünschen, dass du mitgenommen wirst, dass du für ein Mal nicht selbst entscheiden musst, wohin die Reise gehen soll.

Die 3. Haut: Du wirst froh sein, dass sich nicht all deine Wünsche erfüllen - auch auf deinen Reisen nicht.
Die 4. Haut: Du wirst auf jeder Reise Dinge an dir entdecken, die dich beunruhigen. (Du wirst dir dann mehr philosophische Tiefe wünschen statt oberflächlicher Angst.)

Die 5. Haut: Du wirst wieder lernen, dass jede Reise immer auch ein Anfang mehr vom Ende ist. Und du wirst froh sein, dass dir die Anfänge noch gelingen - manchmal auf jeden Fall.

Die 6. Haut: Du wirst dich nach neuen Mitteln umsehen, die Welt zu bereisen. Und du wirst dich entscheiden müssen, was das für dich wirklich bedeutet: Fortbewegung.


Die 7. Haut: Du wirst merken, dass es manchmal nur ein einziger Buchstabe ist, der den ganzen Unterschied macht. Und du wirst dich deshalb fragen, ob du verlässlich mehr bist als eine nicht immer ganz stimmige Metapher deiner selbst.


Die 8. Haut: Du wirst die kleinen Wunder lieben lernen - auch wenn sie dich im Grunde nichts angehen.


Die 9. Haut: Du wirst sehen, dass die Haut kein Behälter ist, kein Sack für Inhalte, sondern der Inhalt selbst. So wie die Reise kein Container für etwas ist, sondern die Sache selbst. Und du wirst erfahren, dass es manchmal einfach nicht ausreicht, nur die Hosenbeine hoch zu krempeln.


Die 10. Haut: Im tiefsten Innern wirst du deine Wahl treffen müssen. Welche Reise soll deine Reise sein? Du kannst um den Verlauf der Reise nicht wissen. Aber du weisst: Jede Zwiebel hat zehn Häute (und unter jeder Haut verbirgt sich eine Wahrheit).

Siehe auch

First Publication: 5-2011

Modifications: 17-2-2012, 20-6-2013