D | E  

Chinesische Mauer (nahe Shuiguan)

Szene 6

Maille erklomm die Ruine eines nahen Wachturms und ver-steckte sich hinter einem Mauerrest. Von hier aus konnte er Zhang gut beobachten – ohne selbst gesehen zu werden. Zhang rauchte, er schien nervös. Maille versuchte, den Fruchtzucker der Maulbeeren von seinen Fingern zu bekom-men. Der Wind strich sanft über die geschichtsträchtigen Mauern – und die Zeit verging. Wenn ein Wind weht, dann kommt kaum je Langeweile auf. Wind macht deutlich, dass die Welt sich bewegt, er vermittelt ein Gefühl von Aktion. Manchmal kommt uns der Wind wie ein Lebewesen vor, das uns wirres Zeug einflüstert, Geschichten, Gerüchte, Prophe-zeiungen, mal verführerisch, mal bedrohlich, lästig gelegentlich auch. Wind, der «grosse Voyageur» (Lucien Blagbelle), der von irgendwo kommt und weder Ziel noch Absicht kennt, der nie einen Weg beschreitet und sich doch ohne jedes Zögern bewegt. Kein Wunder, haben frühere Völker die Winde wie Gottheiten verehrt – sie waren ihnen so selbstverständliche Booten des Universums wie dem heutigen Menschen Google, Facebook oder Twitter.

Das Poltern von Steinen riss Maille aus seinen Gedanken – jemand schlich unter seinem Hochsitz hindurch. Der Mann war gross und trug eine braune Outdoor-Jacke – unter seinem Arm klemmte eine lederne Mappe. Er ging direkt auf Zhang zu. Die zwei sprachen kurz miteinander, dann nahm der Mann ein Dossier hervor und streckte es dem Agenten des «Büro 106» hin, der ihm im Gegenzug ein kleines, prall gefülltes Couvert überreichte. Zhang schien ganz gefesselt von dem Papier – und bemerkte also nicht, wie der Mann erneut in seine Mappe griff und nun plötzlich einen Schlagstock in der Hand hielt. Zhang blickte auf – der Stock traf ihn mitten ins Gesicht. Während er rückwärts gegen einen Mauervorsprung krachte, riss ihm der Mann das Dossier aus der Hand und rannte davon.