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Peking, Sommerpalast, Westdeich

Szene 12

Bald fand er die auf dem Plan markierte Spiegelbrücke (Jing Qiao) und stiess gleich dahinter wie versprochen auf einen Angler – bewacht von einem zweiten Mann, der dienstfertig neben ihm stand. Das musste er sein, der Chef von «Büro 106». Oberst Li nickte kurz zur Begrüssung, wandte sich dann aber sofort wieder ganz seiner Rute zu.
«Ich habe Sie hergebeten, um ihnen zu danken», sagte Li in fast akzentfreiem Französisch: «Wahrscheinlich haben sie einem unserer besten Leute das Leben gerettet – er würde ohne Sie vielleicht immer noch dort oben liegen.»
«Es war mir ein Vergnügen.»
«Schade nur, dass sie das Dossier nicht sicherstellen konnten. Das hat der Täter ja wieder an sich genommen – nicht wahr?»
«Es scheint so, ja.»«Haben Sie den Mann eigentlich wiedererkannt?»
«Nein, das war meine erste Begegnung mit ihm.»
«Aber vielleicht wissen sie ja, für wen er arbeitet?»
«Ich habe keine Ahnung – leider», log Maille. Das also war der Grund, warum ihn der Chef von «Büro 106» sehen wollte: Es ging darum, herauszufinden, was Maille wusste. Seltsam war nur, dass niemand ihn fragte, warum er selbst auf der Mauer gewesen war.
«Natürlich wissen wir, was sie suchen», sagte der Angler – als hätte er Mailles Gedanken erraten: «Wir ziehen ja alle am selben Strick. Trotzdem werden Sie verstehen, dass wir ihnen nicht direkt helfen können. Die Situation ist etwas schwierig – ausserdem arbeiten sie für eine fremde Regierung».
«Natürlich, das verstehe ich gut.»
«Danke, danke sehr. ‹Der Sittliche setzt die Schwierigkeit voran und den Lohn hintan› – so spricht Meister Kong.»*
«Ja, auch mein Metzger schlachtet zunächst die Kuh, und verkauft mir erst dann ihre Kutteln.» Oberst Li wandte sich um, nahm Maille ins Visier seiner kleinen Kasernenaugen, prüfend, ein bisschen drohend fast – dann brach er in schallendes Gelächter aus.

Am Ausgang des Sommerpalastes traf Maille auf Zhang – der immer noch arg lädierte Agent hatte offenbar auf ihn gewartet. Als Maille sich näherte, salutierte er militärisch – ein bisschen wie eine Puppe, deren Mechanik leicht eingerostet ist.
«Ich wollte Ihnen persönlich danken.» Maille hatte nichts anderes erwartet.
«Es tut mir wirklich leid, dass wir ihnen nicht weiterhelfen können.» So ein Menschenleben scheint in China nicht allzu viel wert, dachte Maille und lächelte – so wie man jemanden anlächelt, der einem in einer Bäckerei eben das letzte Brot vor der Nase weggeschnappt hat.
«Von Natur aus stehen die Menschen einander nahe, erst durch Übung entfernen sie sich voneinander»,** flüsterte Zhang und senkte die Augen.
«Wer sagt das? Ihre Frau?»
«Nein, das ist von Kong Tse – waren Sie schon in Kong Miao, dem grossen Tempel des Meisters an der Guozijian Jie?»

* Konfuzius: «Gespräche», VI, 20.

**Konfuzius: «Gespräche», XVII, 2.