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Anne Bigord: Bild 12 aus der Reihe «Rivière Pilote», 2002.
Spitze einer Riesenflügelschnecke.

«Eine kleine Mundmusik»

von Lucien Blagbelle

Als wäre sie direkt aus dem Himmel auf die Erde herab gefallen, kauerte sie plötzlich vor mir am Boden. Der Aufprall ihrer Füsse verursachte ein leises Klatschen und zwischen ihren Zehen stiegen klitzekleine Staubwölkchen hoch. Sie hatte schwarzes Haar, dunkle Augen und einen nussbraunen Teint - eine verführerisch schöne Frau. Grösstenteils auf jeden Fall. Denn nicht alles an ihr war Frau: Vom Nacken bis zum Gesäss nämlich verlief ein Band aus silbern glänzenden Schuppen, wie sie sich gewöhnlich nur bei grossen Meeresfischen finden. Sie stand auf und sah mich erwartungsvoll an. Dummerweise hatte ich mir eben eine Gabel voll flambierter Riesenflügelschnecke in den Mund geschoben – ein neues Rezept meiner Köchin, das ihr etwas zäh geraten war. Ich kaute energisch darauf herum, doch die Stücke wollten sich partout nicht auf eine schluckbare Grösse zerkleinern lassen. Anstatt dessen ertönte plötzlich eine geheimnisvolle Musik und die Fischfrau begann zu tanzen. Sie bewegte ihren Körper auf seltsam geschmeidige Weise - als befände sie sich im Wasser und nicht an Land. Ich kaute noch rascher, um den leidigen Lambis endlich loszuwerden. Doch da merkte ich, dass mit meinem Kauen auch der Rhythmus der Musik schneller wurde. Und damit ihr Tanz. Ich kaute also wieder langsamer – und tatsächlich: Ich bremste Musik und Frau. Ausserdem stellt ich nun fest, dass auch die Art meines Kauens einen Einfluss auf ihre Verhalten hatte. So brachte ich sie dazu, näher zu kommen und sogar zu lächeln.

Doch dann, ehe ich herausfinden konnte, wozu ich sie kauend wohl noch bringen würde, brach ein ohrenbetäubendes Scheppern in meine kleine Mundmusik ein, gefolgt von einem ebenso lauten Fluchen. Marie, meine Köchin, die auf der Veranda den Tisch für das Abendbrot deckte, hatte eine Schüssel fallen lassen. Und meine Siesta war damit beendet. 

Ich wusste, dass es diese Fischfrau nur in meinen Träumen gab. Und doch war ich in meinem tiefsten Innern auch sicher, dass sie real existierte oder zumindest einmal existiert hatte – und nun vielleicht aus der Vergangenheit heraus in meine Ruhestunden schlüpfte. All dies, da war ich mir sicher, hatte mit diesem seltsamen Ort zu tun. 

Undatierte Notiz von Lucien Blagbelle, vermutlich aus den Jahren um 1854. Erstmals publiziert in den «Cahiers du Musée historique de Santa Lemusa», 1988, Heft 2.

Ein Körperteil, durch ein nasses Glas hindurch gesehen.

Siehe auch

First Publication: 5-2004

Modifications: 23-2-2009, 30-9-2011