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Damit habe ich nicht gerechnet – als die Bedienung den Teller vor mich hinstellt, sieht plötzlich alles ganz anders aus. (Wörlitz, Juli 2015)

Frischlingskeule aus dem Wörlitzer Forst

«Langsam geschmortes Wildschwein in Wacholdersauce an hausgemachtem Apfelrotkohl, Rotweinbirnen, Kartoffelklössen» im Restaurant «Zum Stein» in Wörlitz – ein funerales Erlebnis zu Peter Polters Episoda 150730 Wörlitz Stein

Wer tagsüber durch das Gartenreich Dessau-Wörlitz gewandert ist, kann am Abend natürlich nicht widerstehen, wenn ihm eine «Glasierte Frischlingskeule aus dem Wörlitzer Forst» angeboten wird – schliesslich hat man ja das eine oder andere Tier gejagt, mit dem Blick seiner Augen wenigstens. Das Gasthaus «Zum Stein», das die Frischlingskeule auf seiner Karte offeriert, wird seit 1914 von der Familie Pirl geführt. Hier ist man stolz auf die eigene Tradition, weshalb die Bedienung auch in ländlichen Trachten zwischen den Tischen hin und her rauscht. Elegant wollen die Speisesäle des «Stein» nicht sein – aber man versteht, dass sie gemütlich sein sollen. Eine ausgeklügelte Präsentation der Gerichte erwartet man nicht an einem solchen Ort.


Doch als die junge Dame, die sich um mich kümmert, den Teller vor mich hinstellt, erschrecke ich trotzdem. Das hat nichts damit zu tun, dass die Küche an dem Fleisch ein Verbrechen begangen hätte. Gemessen an dem, was einem in diesen Landen kulinarisch so alles passieren kann, ist der Frischling sogar ziemlich gut gekocht – einmal abgesehen davon, dass von der Keule nur die Behauptung übrig geblieben ist und bloss ein paar Scheiben von einem Braten auf dem Teller liegen.


Was mich irritiert, ist die ganze Szene vor meinen Augen, die mir auf ein Mal wie der Grabplatz des Tieres vorkommt. Das mit naiv gemalten Erdbeeren bedruckte Tischtuch ist der Gottesacker, der Teller die Gruft, das Rotkraut das Bett, auf dem die Reste des Wesens aufgebahrt sind – mit einem Tuch aus brauner Sauce vor Blicken geschützt. Die drei Knödel sind der skulpturale Grabschmuck, das rote Wasserglas leuchtet als ewiges Licht. Der Blumenstrauss steckt in einer Vase, die so tut als ob sei sie aus Stein gemeisselt: die leuchtend orange Blüte, die sich wie ein Kreuz gegen Himmel streckt, das Grün mit den marien-reinen Knöpfchen, die orange-goldene Schleife – das perfekte Begräbnisarrangement. Und jetzt grinst mich aus der Butter-Rosette auch noch ein Totenschädel an, wird der Kerzenleuchter zum Beinhaus: «Was ihr seid, das waren wir – was wir sind, ihr werdet's sein».

Wenn man für einen Moment die Intention ausser Acht lässt, mit der die Dinge vor einen hin gestellt werden, dann blickt man plötzlich in eine ganz andere Welt. Ich schliesse die Augen – doch jetzt steigt mir der Weihrauchgeruch der Wacholdersauce in die Nase. Und klingt da nicht von Fern der Gesang feiner Stimmen: «Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden». Ich greife beherzt zu Messer und Gabel. Ruhe in Frieden, kleines Tier in mir.

Und überall Zeichen. (Wörlitz, Juli 2015)

First Publication: 3-8-2015

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