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Der Speisesaal des Restaurants «Le Sourire» in La Puguignau, aufgenommen im Dezember 1903. (Bild Archives Nationales de Santa Lemusa)

Das Restaurant «Le Sourire»

«Es gibt sie noch, die unentdeckten Inseln – in der Kunstwissenschaft auf jeden Fall.» Mit diesen Worten beginnt Sophie Labanne einen Essay mit dem Titel «Le paradis – dernière tentative» (in: «Revue historique», no. 81, 2014. S. 191-230), der nicht nur am kunstwissenschaftlichen Institut der Universität von Santa Lemusa einiges zu reden gab. Labanne bringt darin die These zum Ausdruck, dass Paul Gauguin nicht, wie allgemein angenommen, 1903 auf der Marquesas-Insel Hiva Oa verstarb, sondern erst 1908 auf Santa Lemusa.

Gehetzt von den französischen Kolonialbehörden, belastet von seinen enormen Schulden, ungeliebt von den Einheimischen, vielleicht auch verfolgt von den Ansprüchen seiner jüngsten Geliebten, soll Gauguin seinen Tod am 8. Mai 1903 nur vorgetäuscht haben – die letzte Möglichkeit, dem vielfachen Druck zu entkommen, der auf ihm lastete. In Tat und Wahrheit soll er die Insel, «wahrscheinlich noch in derselben Nacht», heimlich per Boot verlassen haben. Wie Gauguin es anstellte, seinen Tod vorzutäuschen, wird laut Labanne «sicher bald genauer untersucht werden können». Die Kunsthistorikerin nimmt aber an, dass er dabei wohl die Hilfe eines Arztes beansprucht habe.

«So wenige Beweise wir für den Tod von Paul Gauguin haben – so viele haben wir für seine ‹Auferstehung›», schreibt Labanne: «und die fand wohl im Sommer 1903 am Fusse des Mont Mik im Osten von Santa Lemusa statt.» Der Anlass für diese kühne Behauptung ist eine Fotografie, die Labanne in den staatlichen Archiven von Port-Louis gefunden hat: Sie zeigt einen luftigen Speisesaal mit gedeckten Tischen. Durch einen breiten Durchgang blicken wir in einen zweiten Saal – und da hängt, uns frontal gegenüber, ein Bild an der Wand, das wie eine Version des berühmten «Nafea faa ipoipo» aussieht, das Gauguin 1892 malte. Auf der linken Seite des Durchgangs hängt eine grosse Zeichnung, auf der eine nackte Schönheit kniet, aus deren Arm eine grosse Lotusblüte wächst – darunter steht in geschwungener Schrift «lapure». Auf der rechten Seite sehen wir ein zweites Blatt, das den Kopf einer ernst blickenden jungen Frau zeigt – und darüber den Schriftzug «Le Sourire».

Auf der Rückseite des Fotos steht in kleinen Buchstaben geschrieben: «Le Sourire – La Puguignau – Dezember 1903». La Puiguignau ist der Name eines kleinen Dorfes, das in der Ebene östlich des Mont Mik liegt – einige Kilometer südlich von Dézè. Die Bewohner leben seit alters vom Anbau der Lotuspflanze, die sie in grossen, mit Wasser aus den nahen Bergen gefüllten Becken kultivieren – als Zierpflanzen, vor allem aber als Nahrungsmittel. Es ist eine landschaftlich sehr schöne und kulturell sehr ursprüngliche Gegend. Labanne unternahm Recherchen vor Ort und fand bald heraus, dass es tatsächlich bis in die 1960er Jahre hinein hier ein Restaurant gab, das «Le Sourire» hiess. Es sei von einem Monsieur Paul gebaut und begründet worden, der eines Tages «wie aus dem Nichts» in La Puguignau auftauchte – mit einigem Geld in der Tasche und in Begleitung von «zwei sehr jungen, dunkelhäutigen Frauen».

Dass die Erinnerung an Monsieur Paul und seine zwei Begleiterinnen, die Schwestern Teura und Tahia, in La Puguignau auch heute noch lebendig ist, verdankt sich nicht allein der Tatsache, dass «Le Sourire» das erste und einzige Restaurant war, das es je in dem Dorf gab. Auch das Benehmen des Mannes und gewisse Angewohnheiten der zwei Frauen schrieben sich der Dorfhistorie auf legendäre Weise ein. Der Mann soll innerhalb kürzester Zeit verschiedene junge Schönheiten des Weilers verführt (manche sagen auch «vergewaltigt») und geschwängert haben. Und die zwei Frauen sollen vor aller Augen Fische aus den Lotus-Becken auf eine Art und Weise verzehrt haben, die den Bewohnern das Blut in den Adern gefrieren liess: roh und an einem Stück, mitsamt den Schuppen, Kiemen, Knochen und Eingeweiden.

An die kulinarischen Gepflogenheiten der Schwestern konnte sich die Bewohner von La Puguignau mit der Zeit gewöhnen – an das selbstherrliche Benehmen des Mannes aber nicht, zumal Monsieur Paul aus seinen Abenteuern auch keinen Hehl machte und die Männer des Dorfes immer wieder mit herablassenden Bemerkungen kränkte. Da half es nur wenig, dass der Fremde durch den Kauf eines ansehnlichen Grundstückes und den Bau eines stattlichen Gasthauses doch einiges Geld in die Taschen von diversen Leuten fliessen liess. Die Eröffnung des Etablissements im Dezember 1903 soll eine traurige Angelegenheit gewesen sein. Es waren die zwei jungen Frauen, die sich um das Restaurant kümmerten – zu Beginn unterstützt von einem Koch aus Port-Louis, der offenbar auch so etwas wie ihr Lehrmeister war. Der Betrieb lief nur schlecht, die Leute waren wohl misstrauisch. Monsieur Paul soll sich als Entwerfer von Werbepostern für verschiedene Produzenten auf der Insel versucht haben – mit mässigem Erfolg allerdings. Unter anderem gestaltete er offenbar auch ein Plakat für die Firma «Lapure» – damals schon der grösste Produzent von getrockneten Lotussamen in La Puguignau. Und genau dieses Plakat – oder vielmehr einen Entwurf dafür – erkennt Labanne auf der erwähnten Fotografie wieder. Ob der Entwurf je in Produktion ging, ist fraglich – Labanne bezweifelt es, weil sich sonst doch einzelne Exemplare hätten erhalten müssen.

Die Spannungen zwischen dem Fremden und den Männern des Dorfes wurden grösser und grösser – auch weil Monsieur Paul den Leuten offenbar gerne erklärte, wie sie richtig zu leben hätten und was sie alles falsch machten. Auch brüllte er seine zwei Begleiterinnen regelmässig an – grundlos, wie es heisst. Zwei Mal schlug er sich mit einem seiner wenigen Gäste – und ein Mal versohlte er einem Kind aus dem Dorf den Hintern. Ausserdem torkelte er immer öfter splitternackt oder kaum bekleidet umher – betrunken oder unter dem Einfluss von irgendwelchen Drogen. An einem Abend im Februar 1908 dann geschah es: Beim Angeln an einem Ausläufer des Lac de Forlys muss er ausgerutscht und so unglücklich auf einen Stein gefallen sein, dass er sich eine tödliche Kopfverletzung zuzog. Man fand ihn erst Tage später. Die aus Dézè herbeigerufenen Gendarmen verzichteten nach einem kurzen Blick auf den Tatort und einem längeren Gespräch mit dem Bürgermeister auf eine Untersuchung des Falles. Teura und Tahia beerdigten Monsieur Paul in einer Ecke ihres Grundstücks – unter einem grossen Bel-Baum. Im Dorf ist man sich einig, dass dies so etwas wie eine Rache der zwei Frauen an Monsieur Paul Paul war: die Bengalische Quitte, wie der Baum offiziell heisst, ist nämlich berüchtigt für ihre hartschaligen Früchte, die beim Fall einen Menschen ernstlich verletzen können. So knallten denn ab und zu harte Geschosse gegen das Grab von Monsieur Paul – aufgeweckt allerdings haben sie ihn nicht.

Labanne ist überzeugt, dass es sich bei diesem Monsieur Paul um keinen anderen handeln kann als um Paul Gauguin, der in La Puguignau ein letztes Mal versucht hat, «sein Paradies auf Erden zu finden», und ein letztes Mal eine herbe Enttäuschung hat erleben müssen – nicht ganz ohne eigene Schuld, wie Labanne betont: «Gauguin hat bis zuletzt nicht verstanden, dass man sich das Paradies nicht einfach nehmen kann.» Ob Gauguin in jenen Jahren noch Bilder gemalt hat oder nicht, weiss auch Labanne nicht zu sagen. Im Dorf selbst haben sich offenbar keinerlei Spuren einer malerischen Tätigkeit des Mannes erhalten. Die Kunsthistorikerin hält es für möglich, dass sich Gauguin bei seiner Ankunft im Dorf in einer argen Schaffenskrise befunden habe. «Wohl hoffte er, diese Krise hier in La Puguignau zu überwinden. Als er merkte, dass die Inspiration nicht wiederkehrte, muss er mehr und mehr verzweifelt sein. Das würde auf jeden Fall seine zunehmende Aggression und seinen Griff nach Alkohol oder Drogen erklären», ist Labanne überzeugt.

Immerhin machte Labanne einen Fund vor Ort, der möglicherweise in einem Zusammenhang mit der Geschichte steht. Eine Frau aus dem Dorf zeigte ihr stolz ein Rezept, das ihre Grossmutter als junge Frau von Teura und Tahia bekommen haben soll. Es handelt sich um ein Blatt, das wohl in der Mitte auseinandergerissen wurde. Am linken Rand kann man neben einer kleinen Kritzelei, die einen etwas ungelenk gezeichneten Vogel darstellt, einen geschwungenen Schriftzug sehen: «Cher Monsieur Vo». Daneben, in einer ganz anderen, eher krakeligen Schrift und in anderer Laufrichtung, ist das Rezept für ein Dessert niedergeschrieben. Labanne ist ziemlich sicher, dass es sich bei dem «Cher Monsieur Vo» um den Ansatz zu einem Brief handelt, den Gauguin an seinen Kunsthändler Ambroise Vollard schreiben wollte – wahrscheinlich mit der Absicht, ihn um Geld zu bitten.

Obwohl (oder vielleicht auch gerade weil) Gauguins Blut, wie die Kunsthistorikerin vermutet, wohl durch die Adern des einen oder anderen Bewohners von La Puguignau fliesst, haben sich die ersten Jahre von «Le Sourire» doch als ein bitteres Kapitel in die Dorfgeschichte eingeschrieben. Auch Generationen später noch spricht man in La Puguignau offenbar nur ungern über den Mann. In einem E-Mail an die HOIO-Redaktion (vom 10. April 2015) äusserte Labanne die Vermutung, dass dies vielleicht auch mit den etwas seltsamen Umständen seines Todes zu tun haben könnte.

Ganz anders temperiert ist die Erinnerung an Teura und Tahia. Denn nach dem Unfall von Monsieur Paul entspannte sich die Lage. Die zwei jungen Frauen führten das Restaurant fort und konnten mit ihrer eigenwilligen Küche recht schnell Kundschaft aus dem Dorf und bald auch dessen weiterem Umkreis gewinnen. «Erst nach dem Tod von Monsieur Paul konnte das Lächeln auch wirklich in ‹Le Sourire› einkehren», schreibt Sophie Labanne. «Le Sourire» war ja auch der Titel einer satirischen Zeitschrift, die Gauguin 1899 gründete, um sich über Missionare und Kolonialbeamte lustig zu machen. Warum er diesen Namen auch für sein Restaurant gewählt hatte, kann sich Labanne nicht ganz erklären – «vielleicht hoffte er auf eine Art Umdeutung, auf einen echten Neuanfang.»

Labanne hat verschiedene Leute getroffen, die Teura und Tahia persönlich kannten und als ungemein gewinnende Personen beschrieben – auch sollen die Schwestern selbst im hohen Altar noch charismatische Schönheiten gewesen sein. Trotzdem blieben sie unverheiratet und wohnten ihr ganzes Leben lang zusammen. Als sie das Restaurant 1966 aufgaben und in eine Alterswohnung nach Port-Louis zogen, machten sie den Bewohnern des Dorfes ein Abschiedsgeschenk der besonderen Art: Sie gaben das bis dahin geheimgehaltene Rezept jener Gewürzmischung preis, mit der sie einige ihrer beliebtesten Speisen zu aromatisieren pflegten. Die rührende Geschichte wurde sogar in der Wochenzeitung «Glas» kommentiert: «Le Sourire dans une boîte d'épice», titelte das Blatt.

Im Januar 2015 hat Labanne in den Archives Nationales einen weiteren Fund gemacht: eine Speisekarte aus dem Restaurant «Le Sourire», von Hand geschrieben und mit farbig aquarellierten Zeichnungen verziert. Sie glaubt die Handschrift von Gauguin zu erkennen. Im April 2015 hat sie eine Kopie des Blattes an einen Graphologen nach Paris gesandt, dessen Expertise noch aussteht. Liegt diese einmal vor, will Labanne die Speisekarte in der nächsten «Revue historique» publizieren.

An der Stelle des ehemaligen Restaurants «Le Sourire» prunkt heute ein Wohnhaus, das auf etwas patzige Weise mit dem ehrwürdigen Firmengebäude von «Lapure» zu konkurrieren sucht.
Der Stein, unter dem Monsieur Paul beerdigt wurde, steht immer noch auf dem Gelände. Von dem Bel-Baum allerdings, der einst seine Früchte auf das Grab prasseln liess, hat sich nur der Stumpf erhalten.
Verblüffende Ähnlichkeit: Links Gauguins «Nafea faa ipoipo» von 1892 – und rechts das Bild aus dem Restaurant «Le Sourire». Die Kunsthistorikerin Sophie Labanne vermutet, dass sich das Gemälde noch irgendwo auf der Insel befindet – vielleicht sogar in La Puiguignau.

Rezepte aus dem «Le Sourire»

  • Sourire (Die Gewürzmischung von Teura und Tahia)
  • Pātia (Dip aus Quark, mit Thunfisch, Zwiebel und der Gewürzmischung «Sourire»)
  • 'Ota 'ika à la fleur de banane (Roher Fisch, kurz in Limettensaft kalt gegart, mit Bananenblüte in Kokosmilch)
  • Sauce nave nave avec poisson (Fisch in einer würzigen Kokosnuss-Sauce mit Mango, Zwiebeln und getrockneten Garnelen)
  • Pua'a pua'a (Schweineragout mit «Sourire»-Gewürz und Schweineleber)
  • Pape Hina (Lotussamen mit einer Infusion aus Belfrucht, Orangenzeste und getrockneten Feigen)

First Publication: 28-5-2015

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