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Für die Lachszucht ideale Bedingungen: Blick über den Pti Kidsak in Richtung Kap Kon. (Bild aus der Reihe «Miroirs» von Anne Bigord)

Pti Kidsak

Bezirk: Est (Vorwahl: 03) – Karte
Einwohner: 3 (Mai 2011)
Kurzbeschreibung: Eine kleine Bucht zwischen steilen Felsen. Hier betreibt Dag Vik die einzige Lachszucht der Insel. 
Spezialitäten: Lachs «à la Grenadine»

Dass sich Wildlachse nach Santa Lemusa verirren, kommt zum Leidwesen der lokalen Gourmets so gut wie gar nie vor*. So kühl der atlantische Ozean auch ist, so weit nach Süden lassen sich die Nordländer nicht verführen. Wenn sich trotzdem einmal ein Lachs im Netz eines lemusischen Fischers verfängt, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen Ausreisser aus der Fischfarm des Norwegers Dag Jonas Vik.

Dags Haar und Asmonas Zauber. Dag kam 1995 mit gut dreissig Jahren als bärtiger Rastafari von Oslo nach Port-Louis - via Internet hatte er eine Art Ferienjob als Arbeiter in der Konservenfabrik von Narial Industries gefunden. Er trug damals einen gewaltigen Haarzopf, den er sich über mehr als zehn Jahre hinweg hatte wachsen lassen. Zum grossen Unglück für diesen Zopf allerdings erblickten Dags wässrigblaue Augen schon in seiner ersten Arbeitswoche die zauberhafte Asmona - eine kaffeebraune Schönheit, die in der Fabrik als Inspektorin angestellt war. Dag liess sich nicht nur von Kopf bis Fuss inspizieren, er schwor auch innert kürzester Zeit Bob Marley, Haile Selassie und dem Haschisch ab, ja er trennte sich nach einigen Tagen gar von seiner Haarpacht, von seinem geliebten «Biotop», wie er es nannte. Im Gegenzug wurde er einige Monate später bereits Vater von zwei kleinen Mädchen, die er Kristina und Maria taufte.

Kellner im «La Désirade». Das brachte einige Aufregung in Dag's Leben, das zuvor doch eher «philosophisch organisiert» (Dag) gewesen war. Dag quittierte den Job in der Konservenfabrik und nahm eine etwas besser bezahlte Arbeit in einer Bäckerei in Port-Louis an. Leider stellte sich heraus, dass er auf Mehlstaub allergisch reagierte und also wechselte er in eine Autogarage, dann wurde er Tankwart, Zeitungsverkäufer, Kurierfahrer und landete schliesslich als Kellner im Restaurant «La Désirade» auf einer Klippe ganz im Süden der Insel.

Ein veritabler Experte. Das war Dag's grosses Glück. Denn France Duchamp, die Inhaberin des Restaurants, nahm sich als gewiefte Managerin des jungen Norwegers an. Sie half im dabei, seine Papiere in Ordnung zu bringen und besorgte der Familie Vik eine ebenso grosszügige wie günstige Wohnung mitten in der Altstadt von Port-Louis. France Duchamp war es auch, die Dag schliesslich auf den Gedanken brachte, es doch mit Fischzucht zu probieren. – Diese Idee lag insofern nahe als Dag aus einer weit verzweigten Familie stammte, die sich seit Generationen auf die eine oder andere Weise mit Fisch ihren Lebensunterhalt verdiente - sei es nun als Walfänger oder Fischer, als Köche, Fabrikarbeiter oder Organisatoren von Bootstouren für Touristen (Whale-Watching etc.). Während Jahren hatte er ausserdem Sommer für Sommer auf der Fischfarm seines Cousins in den Lofoten gejobbt. So war er mit der Zeit zu einem veritablen Experten geworden.

Kleine Einbahnstrasse. An einem regnerischen Tag im Frühling 1998 fuhr France Duchamp mit Dag, Asmona und den zwei Töchtern der Viks in den Norden der Insel nach Maizyé. Von dort aus steuerte sie ihren ächzenden Citroën über einen steinigen Weg in eine etwas weiter westlich gelegene Bucht. Im Schutz grosser Felsen betrieb ein gewisser Victor Bardin da seit mehr als vierzig Jahren einen kleinen Fischfangbetrieb. Die Lagune war dafür ausgezeichnet geeignet: Mit der Flut trieb das Meer die Fische in die Bucht hinein und bei Ebbe verengte sich der Eingang so stark, dass der Fischer bloss noch an der richtigen Stelle sein Netz ausspannen musste. Pti Kidsak hiess diese Bucht im Kreolisch der Insel – kleine Einbahnstrasse.

Wie in den Fjorden des Nordens. Mit weit über siebzig Jahren hatte Bardin beschlossen, sich in den Ruhestand zu begeben – und da seine zahllosen Kinder längst in den verschiedensten Berufen tätig waren, wollte er seine Fischfangstation verkaufen. Als Dag den Pti Kidsak sah, schossen ihm Tränen in die Augen. Er ging herum, fuhr mit einem kleinen Motorboot kreuz und quer durch die Bucht, streckte seine Füsse tief in das Wasser, kostete es sogar und verkündete schliesslich, immer noch mit feuchten Wimpern: «Hier könnte ich Lachse züchten». France Duchamp hatte an alle möglichen Aquakulturen gedacht - an Krabben oder Schrimps, Lippfisch oder Red Snapper, Goldmakrele, Chamou oder Baracuda, nie jedoch an Lachse: Denn wie sollte man auf Santa Lemusa einen Fisch züchten, der dafür bekannt war, dass er manchmal fast bis zum Nordpol schwamm?

Skeptische Freundin. Dag aber war Feuer und Flamme – so weit, wie das einem Norweger möglich war: Er erklärte seinen staunenden Zuhörerinnen, dass in diesem Pti Kidsak ganz ähnliche Bedingungen herrschten wie in den Fjorden seiner Heimat, dass eine Lachszucht hier folglich möglich sei – und schilderte in den buntesten Farben, welche Revolution das für die Gastronomie der Insel bedeuten würde. – France Duchamp blieb skeptisch. Trotzdem kaufte sie Bardins Fischereistation und lieh Dag so viel Geld, dass er sich die für sein Vorhaben nötigen Utensilien besorgen konnte. Schliesslich, so tröstete sie sich, würden sich auf dieser Wasserfarm ja dann wohl auch noch andere Meerstiere kultivieren lassen.

Das ökologische Gleichgewicht. Wenige Monate später schon schwammen an der Stelle des früheren Fischwehrs zwei runde Pontons in der Bucht des Pti Kidsak. Und gut eineinhalb Jahre danach gab es im Restaurant «La Désirade» einen Abend, der den Gourmets der Insel heute noch in Erinnerung ist – als die erste «Soirée du Saumon» der Karibik. - Der neuartige Fisch fand reissenden Absatz auf der Insel – nicht ganz zuletzt vielleicht auch wegen seines «préstige européen», wie ein Journalist von «Leko» etwas hämisch schrieb. Und heute schwimmen gar sechs dieser seltsamen Inseln in der Bucht hinter Maizyé. In jedem dieser Netzkäfige, Dag nennt sie liebevoll seine «kleinen Farmen», schwimmen rund 4000 Fische – «mehr will ich der Natur nicht zumuten, schliesslich lebe auch ich davon, dass diese Bucht in einem ökologischen Gleichgewicht bleibt». – Der Atlantik ist im Pti Kidsak nur etwa 14 bis höchstens 18 Grad warm - das geht gerade noch für die Zucht von Lachsen, die generell ja eher in Wasser zwischen 4 und 12 Grad unterwegs sind. Ab 20 Grad fühlen sich Lachse nicht mehr wohl und stellen das Wachstum ein – was für eine Fischzucht natürlich ungünstig wäre. 

Kreuzung Saumon Vik. Die starken Gezeiten in der Bucht führen dazu, dass die Fische ständig gegen Strömungen anschwimmen müssen – ähnlich wie in der Wildnis, wo die Lachse ja manchmal viele Kilometer flussaufwärts reisen, um ihren Laich abzulegen. Es ist eine eigene Kreuzung, die Dag hier züchtet – er nennt sie Saumon Vik. Für die Nachzucht pflegt der Norweger ganz spezielle Lachse, deren Gene sich über Generationen hin bewährt haben. Die Fische laichen in Süsswasserbecken ab, die Dag in einer nahen Grotte angelegt hat – ähnlich wie in der Wildnis. In dieser Höhle, Dag spricht vom «Tresor der Firma Vik» steigt die Temperatur selten über 6 bis 8 Grad. Nach etwa 7 bis 8 Monaten in den Süsswasserbecken werden die Jungtiere dann in die Salzwasserfarmen transferiert. 

Besonders sorgfältig geht Dag bei der Fütterung vor, denn die Lachse sollen alles essen, was er ins Wasser gibt. Dag verwendet biologisches Lachsfutter aus hochwertigen Proteinen, Vitaminen und Mineralstoffen, pflanzlichen Ölen, Kohlenhydraten und Fischmehl. Die Bilanz ist erstaunlich Für die Aufzucht von 1kg Fisch braucht Dag nicht mehr als 1 kg Trockenfutter. Dag verfüttert weder synthetische Zusatzstoffe noch Antibiotika an seine Fisch. Er setzt auch bewusst keine Phaffia-Hefen ein, weshalb das Fleisch von Dags Tieren etwas bleicher ist als das vieler anderer Zuchtlachse. 

Keinerlei Zusatzstoffe. Wilde Lachse ernähren sich unter anderem von Krebsen und Garnelen, in deren Schalen sich der Farbstoff findet, der dann auch das Fleisch des Lachses rosa-orange färbt. Da Zuchtlachse nur Trockenfutter bekommen, fehlt ihnen der Farbstoff aus der Schale der kleinen Meeresbewohner. Theoretisch würde man also den Unterschied zwischen Zuchtlachs und Wildlachs auf den ersten Blick erkennen – doch da kommt dann eben die Phaffia-Hefe zum Zug, die das Fleisch des Zuchtlachses so rosa färbt, dass man es von dem seiner wilden Genossen nicht mehr unterscheiden kann. Dass Dag auf den Einsatz solcher Tricks verzichtet, hat primär ökologische Gründe – und ausserdem: «Wer auf Santa Lemusa Lachs bestellt, der weiss doch ohnehin, dass der Fisch nur aus einer, aus meiner Zucht stammen kann». Im Alter von gut 18 Monaten sind die Tiere schlachtreif. Mit einem speziellen Netz holt Dag nun immer gerade so viele Tiere aus der Farm, wie er an einem Tag schlachten will. In einer kleinen Hütte, der sogenannten Fabrik, hat Dag ein kleineres Becken eingerichtet, dessen Temperatur er mit Hilfe eines Kühlsystems auf etwa 2 Grad Celsius senken kann. Dag gibt die gefangenen Tiere bei etwa 10 Grad in das Becken und senkt die Temperatur dann im Verlauf von 4 bis 5 Stunden auf 2 bis 3 Grad Celsius ab. Ziel dieses Manövers ist es, den Lachs möglichst stressfrei zu schlachten. Stress nämlich macht das Fleisch des Lachses weich und schleimig-matschig. Bei einer Temperatur von 2 Grad ist die Bewegungsfähigkeit des Lachses stark eingeschränkt, wird er müde und schläfrig. So kommt der Fisch schliesslich ganz entspannt unters Messer.

In den einzelnen Farmen züchtet Dag verschiedene «Altersstufen». Ist eine Farm ausgeschlachtet, lässt er das Netzgehege während mindestens einem Jahr leer - so soll sich die Umgebung von der Belastung erholen, den die Lachse mit ihren Bewegungen und ihren Exkrementen für Fauna und Flora bedeuten. – Dag verkauft ganze Lachse sowie Lachsfilets, die er täglich an seine Kunden liefert. Zu diesen zählen vor allem Restaurants sowie einzelne Fischgeschäfte. Zu gewissen Zeiten produziert Dag auch verschiedene Sorten von gebeiztem und geräuchertem Lachs, die ebenfalls sehr beliebt sind.

Bei allem Erfolg wird Dag manchmal doch auch von der Sehnsucht nach dem «philosophisch organisierten» Leben von einst gepackt. Dann greift er sich sein Angelzeug und steigt für ein paar Stunden hinaus auf die Klippen am Kap Kon. Hier hat er schon ganz verschiedene Fische gefangen und hier, so schmunzeln die Leute, wird er eines Tages wohl auch einen Ausreisser aus seiner eigenen Farm am Haken haben.

* Dieser Text entstand vor 2011 – seither kommt es öfters vor, dass sich Wildlachse in den Gewässer vor der Insel tummeln, die nicht aus der Zucht von Dag Vik entwichen sind.

Die Fischfarmen von Dag Vik in der Bucht des Pti Kidsak – in jedem der Netzkäfige schwimmen rund 4000 Fische.
Runde Gehege schwimmen im Wasser.
Dag Vik liebt das Wasser - in jeder Form.
Ein Mann trinkt Wasser aus einer Flasche, am Meer.
Zuchtlachs hätte von Natur aus ein helleres und bräunlicheres Fleisch als der Wildlachs. In vielen Aquakulturen werden dem Futter deshalb Phaffia-Hefen beigegeben, die das Fleisch ebenfalls rosa-orange färben. Dag Vik verzichtet auf eine solche Zugabe: «Zuchtlachs ist Zuchtlachs und ich bin der Farmer - ein Bauer käme ja auch nie auf die Idee, seine Äpfel oder Kartoffeln so aussehen zu lassen als hätte er sie zufällig im Wald gefunden.»
An gewissen Tagen wird Dag von der Sehnsucht nach dem «philosophisch organisierten» Leben von einst gepackt. Dann greift er sich sein Angelzeug und steigt hinaus auf die Klippen am Kap Kon.

Siehe auch

First Publication: 1-2007

Modifications: 14-2-2009, 30-9-2011