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Hombourg (France) Rhone–Rhine Canal
Rue de la Hardt
Sonntag, 29. März 2015

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Ich gehe schnell. Noch liegt Schnee auf den Abhängen, noch ist der Boden winterfeucht. Ich bin von Basel nach Mülhausen aufgebrochen, den Kanälen entlang – ein Spaziergang, ein Marathon. Ich war auf Frühlingssensationen aus, auf weiss und rosa blühende Kirschen, auf schwere Düfte und Bienen, irre vor Glück. Aber es ist noch nicht so weit. Es blühen erst die Weidenkätzchen – und wie immer die Schwäne. Kein Duft fällt auf in dieser Luft, die Nase ist so orientierungslos wie die Spargeln, die unter ihren Plastikplanen noch die rechte Richtung suchen. Stockentenpaare schleichen dem Ufer entlang durchs Schilf, Tauchervögel mit schwarzem Habitat und weissen Köpfchen paddeln sich mit ruckeligen Bewegungen hastig vom Ufer weg.

Ich gehe schnell. Regentropfen schlagen lautlos Ringe in das petrolfarbene Leder des Kanals. Das Knirschen der grossen Bäume wird noch von keinem Rascheln begleitet – manche Stämme quietschen wie junge Tiere, vor Lust oder Leid. Eine kleine Eiche hält vom Herbst noch das Laub, als misstraue sie dem Frühling. Im Wind rasselt sie mit Tausend feinsten Ketten. Das Flöten der Amseln, die weit oben bei ihren Nestern sitzen, wird immer wieder von Böen weggeblasen – die Raben tragen ihr Krächzen selbst davon. Knatternd fahren mir dann und wann Brisen in die Kapuze.

Ich gehe schnell. Nichts wirbt hier mit Nachdruck um die Sinne, keine Farbe, kein Parfum sticht hervor. Nichts lenkt von anderem ab, alles scheint gewöhnlich und dabei ist alles ständig in Veränderung, pausenlos, in Bewegung, unüberblickbar. Dazu passt mein Flug den Kanälen entlang. Denn das Dasein ist ein Davonsausen – und ich spüre, dass dieser Rausch des bewegten Körpers ein stimmiger Ausdruck meiner Welterfahrung ist. Dazu passt nicht, dass ich mir die Wirklichkeit lieber als eine verlässliche Grösse einbilde, in der nicht alles ständig vergeht und verweht. Ich hänge an der Vorstellung, dass man im Leben stehen kann wie in einem Raum – oder wie in einem Bild, in dem man in Ruhe herumgehen, da und dort kleine Verbesserungen vornehmen kann. Fast alle Darstellungsformen von Leben stehen ja in einem seltsamen Widerspruch zur Dynamik, mit der wir uns auf diesem Planeten erfahren. Egal ob Schrift, ob Malerei oder irgendein anderes bildgebendes Verfahren, sie stellen das Leben zwangsläufig als etwas Statisches dar, als einen Zustand – auch Musik und Film kommen davon nicht los, denn ihre Bewegung ist in eine Wiederholung eingebunden und also nur eine erweiterte Form von Stillstand. Einzig die Improvisation, wenn sie mit Hingabe an die Eingabe des Moments verbunden ist, kann das Leben in einer gewissen Dynamik zur Darstellung bringen – vielleicht ist mein Rasen am Ufer der Kanäle genau das: eine Improvisation, eine Improvisation im März.

Siehe auch

First Publication: 1-4-2015

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