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«Fermentation»

Ich habe keine Ahnung, ob ich das essen soll, ob ich das essen will. Spontan ist mirnicht danach zumute. Auf der Oberfläche hat sich Schaum gebildet, wie auf einem Froschteich – das ist gut! Soviel ich weiss, auf jeden Fall. Unter dem Schaum aber stosse ich auf einen dickflüssigen, bräunlich-gräulichen Schleim, der sich an allem festzukleben scheint. Ich hätte nie gedacht, dass aus Randen (Roter Bete) so etwas werden kann – was für ein Potenzial. Aber muss das so sein? Oder ist etwas schief gegangen? Stecken da die gesunden Milchsäurebakterien drin – oder sind es im Gegenteil pathogene Erreger, die hier den Gaumen zum Totentanz einladen? Vielleicht hätte ich für meinen ersten Versuch, fermentiertes Gemüse herzustellen, nicht ausgerechnet Randen nehmen müssen, in deren blutiger Dunkelheit meine Augen nichts erkennen können. Am Gärtopf kann es nicht liegen, der funktioniert tadellos. Vom Internet habe ich mir diverse Anleitungen für das Fermentieren von Gemüse geholt – und ein Buch über Tsukemono studiert, das eingelegte Gemüse der Japaner, die ja als Weltmeister im Fermentieren gelten. Diese Situation aber kam nirgends vor.

Ich grabe mich durch den bernsteinfarbenen Schleim und treffe darunter auf eine funkelnd dunkelrote Schicht. Ich häufe etwas davon auf eine Gabel. Es riecht nicht schlecht. Ich kaue, schlucke – und sofort ist mir ein wenig übel. Zur Sicherheit lege ich das Telefon bereit – wie war noch mal die Nummer der Ambulanz, 117, 118,119?

Tag um Tag stopfen wir tonnenweise Dinge in uns hinein, über die wir so gut wie gar keine Informationen haben. Weder wissen wir, woher die Zutaten stammen, wie sie produziert wurden, noch wie sie in den Zustand gelangt sind, in dem wir sie verzehren. Auch diejenigen unter uns, die regelmässig mit Begeisterung am Herd stehen, haben meist keine Ahnung, was sie eigentlich tun, was da tatsächlich geschieht. Sie haben Regeln im Kopf, die sie meist auf die eine oder andere Weise von früheren Generationen übernommen haben – einige dieser Gesetze mögen begründet sein, andere sind schierer Humbug. Werden Hülsenfrüchte wirklich nicht gar, wenn man Salz ins Kochwasser gibt? Sind das Würmer in diesem Trockenfleisch – oder nur fette Stellen? Kann man nicht auch die Blätter vom Stangensellerie essen? Warum muss man fast jedes Rezept am Ende auch mit Pfeffer «abschmecken»?

Kochen und Essen haben viel mit Tradition zu tun. Das heisst, wir profitieren von den Erfahrungen, die unsere Vorgänger gemacht haben – von jenen, die zum ersten Mal Bohnen kochten, Rinde vom Zimtbaum rissen, eine Auster öffneten, einen Kälbermagen in die Milch warfen, Trauben vergären liessen…

Man kann sich gut vorstellen, wie viele Experimente unsere Vorfahren unternommen haben müssen, die ihrer Gesundheit nicht sonderlich zuträglich waren. Doch die Geschichte wird von den Siegern geschrieben – auch die Küchengeschichte.

Um zu verstehen, was wir essen, was wir in der Küche anrichten, müssten wir im Grunde alles infrage stellen und alle Experimente unserer Vorfahren wiederholen– was, konsequent angewendet, vermutlich das Problem der Überbevölkerung lösen würde. Kein Wunder also, versuchen Eltern und Schule, die Neugier des Nachwuchses eher zu besänftigen, denn sie zu wecken. Nun könnte man aber erwarten, dass es Experten gibt, die das eine oder andere Experiment noch einmal durchexerzieren, die gewisse Dinge infrage stellen oder grundsätzlich angehen. So, wie ich von einer Auto-Zeitschrift erwarte, dass sie mir die Mechanik erklärt, dich mich durch die Strassen sausen lässt – so erwarte ich von einem Magazin zum Thema Essen, dass es mir erklärt, wie eine Kuttelwurst hergestellt wird. Oder aber, dass es zum Beispiel die Frage prüft, ob sich Eiweiss tatsächlich nicht steif schlagen lässt, wenn ein Tropfen Eigelb hineingelangt ist.

Schaut man sich aber die Magazine zum Thema Essen und Trinken an, dann kann davon nicht die Rede sein: Auf bunten Seiten werden endlos dieselben Rezepte variiert, werden öde Reportagen über Spitzenköche oder Stars am Herd, Luxusprodukte wie Trüffeln und edelschimmliges Fleisch, kulinarische Tourismusdestinationen oder heroische Olivenöl-Produzenten mit verwitterten Gesichtern aneinandergereiht – da wird eine scheinbare Vielfalt zelebriert, hinterder sich die Einfalt ständiger Repetition verbirgt.

Seit einigen Jahren aber gibt es ein Magazin, das anders ist. Es wird von Thomas Vilgis und Martin Wurzer-Berger im Halbjahresrhythmus herausgegeben – und geht die Dinge grundsätzlich an. Es bietet Aufsätze zu fundamentalen Fragen wiedem «Töten von Tieren», der «Qualität von Getreide» oder der Gedankenfreiheitin der Küche. Mal ist der Ansatz eher naturwissenschaftlich, mal philosophisch – oder aber es steht die Praxis in der Küche im Vordergrund. Die Hefte präsentieren sich als Lesehefte – und kommen mit ein paar wenigen, weitgehend illustrativen Schwarz-Weiss-Abbildungen aus. Jede Ausgabe rückt ein Thema aus der Welt der Kulinarik in den Fokus – nach Editionen zu Themen wie «Tischsitten», «Globalisierung des Essens», «Geschmacksbildung», «Getreide», «Räuchern» oder «Brot backen» ist die jüngste Nummer 17 ganz der «Fermentation» gewidmet. Herbert J. Buckenhüskes erklärt am Beispiel des Sauerkrauts, wie Fermentation bei pflanzlichen Lebensmitteln funktioniert. Susanne Procopio und Martin Zarnkow schreiben über fermentierte Getränke, Thomas Vilgis konzentriert sich auf Texturen, Strukturen, Aromen – und versteht Fermentation als ein «Molekulares Niedrig-Temperatur-Garen». Jean Luc Oosting wirft einen Blick auf Japans Fermentations-Traditionen – und Walter P. Hammes beschreibt die mikrobiologische Ökologie bei Rohwürsten.

Bei manchen dieser Beiträge wünschte man sich zwar, man hätte damals im Chemieunterricht nicht so nah am Fenster gesessen. Aber auch wenn einem das eine oder andere etwas fremd bleibt, so bekommt man doch eine Vorstellung der komplexen Prozesse, die unter dem Begriff «Fermentation» zusammengefasst sind – eine Ahnung etwa vom Zusammenwirken von Technik, Rohware, Zusatzstoffen und Mikroflora, eine Idee der mikrobiellen Prozesse, der sichwandelnden Klimata. Das hilft zu verstehen, was im Gärtopf passiert. Auch erfährt man viel über die enorme Bedeutung, die verrottete Lebensmittel für das Überleben des Menschen spielten. Zum Beispiel lehrt uns Jacques Barreau, dass schon die Steinzeitmenschen die Fermentation kannten, da sie vergorenen Mageninhalt erjagter Tiere assen. Solche Vorfahren machen uns Mut, doch noch eine Gabel von unserer Bete zu nehmen. Und solche Journale machen uns deutlich, dass das Abenteuer in der Küche nicht erst mit der Trüffel aus Alba beginnt, sondern schon, wenn wir ein bisschen Salz auf unsere Karotte streuen.

Dieser Text erschien erstmals am Donnerstag, 30. Januar 2014 im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 50.

«Journal culinaire – Kultur und Wissenschaft des Essens». Nr. 17, 2013, «Fermentation». Münster: Edition Wurzer & Vilgis, 2013.

First Publication: 18-1-2015

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