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Sonntag, 28. Dezember 2014

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Ein Kraut, das an einer besonders unzugänglichen Stelle wächst, muss einfach mehr Aroma haben als eines, das man einfach vom Rande des Weges greifen kann. Und wenn es nicht mehr Aroma hat, dann wenigstens die aufregendere Geschichte. Allerdings hat das Kraut ja wohl kein Bewusstsein dafür, dass es über dem Nichts in der Winterluft hängt. Ich hingegen schon. Der Abgrund, über dem meine Füsse baumeln, treibt mir ständig einen leichten Schauer die Wirbelsäule hoch, der sich im Kopf als kleiner Schwindel herumtreibt und mich dann und wann zwingt, das linke Auge in einer Art Krampf für ein paar Sekunden zu schliessen. So an die zweihundert Meter dürfte es runter gehen – ziemlich senkrecht. Aus der Tiefe dringt ein regelmässiges, kaum strukturiertes Rauschen an mein Ohr – dann und wann fliegt mit einem kurzen Pfiff ein Vogel vorbei. In der Ferne sehe ich, wie die Wellen mit solcher Wucht auf ein paar Felsbrocken im Wasser treffen, dass sich Gischtschwaden bilden und vom Wind wie Tänzerinnen übers Wasser gewirbelt werden – ehe sie sich ganz plötzlich wieder auflösen.

Wenn mich jetzt etwas packt, ein kleine Schwäche von einer Viertelsekunde, dann ist es aus. Das gilt allerdings auch, wenn man zum Beispiel eine Strasse überquert – nur gehört das Überqueren einer Autostrasse zu meinen täglichen Routinen, das Übersitzen eines Abyssus aber nicht. Und Autostrassen haben auch kaum einen solchen Sog – es ist, als ob es da ein Versprechen gäbe, eine Verlockung. Ich spüre eine unerhörte Macht in mir, der ich am Abgrund wiederstehen muss – eine Stimme, die mir zuflüstert: «Probiere es aus! Lass los!» Ein eigentümliches Spiel.

Trotz der Kälte um diese Jahreszeit treibt der Rosmarin lauter kleine Blüten – weisslich, lilablass und lavendelfahl. Sie sehen aus wie weit aufgerissene Schnäbel, schreiende Greifen – ein tragischer Chor. Soll er sich selbst besingen – oder besser noch meine nächste Ratatouille.

Siehe auch

First Publication: XXXXXXXXX 6-4-2014

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