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Spieluhr «Stille Nacht» mit Schnee

Linz (Austria) Hauptplatz
Bei der Dreifaltigkeitssäule
Donnerstag, 18. Dezember 2014

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In Linz ist der Christkindlmarkt auf dem Hauptplatz rund um die Pestsäule aufgebaut. Dieses Monument, das auf einer Wolkensäule goldene Dreifaltigkeit in den sumpfgrauen Winterhimmel streckt, wurde im frühen 18. Jahrhundert an der Stelle eines Prangers errichtet, an dem man bis dahin die Schandtäter zur Schau zu stellen pflegte. Wichtigster Anlass war das Ende einer Pestepidemie, die bis 1713 in der Gegend wütete.

Es gibt auf dem Markt alles, was es für das Anheizen weihnachtlicher Träume braucht: Glühwein und süsse Backwaren, einen «Tschai-Shop», Duftöl, Liebespaare aus Holz, Wichteldosen, Kuschelschals, jenseitige Schokolade der «Manufaktur Styx» und diesseitige Pfeffermühlen mit Tipps für ein erfülltes Sexualleben. Natürlich gibt es auch Krippenfiguren in jeder Grösse, Christbaumschmuck aus Handarbeit und für nur € 29.50 bringt man Maria und Joseph in seinen Besitz – mitsamt Kind und Tieren als «Spieluhr ‹Stille Nacht› mit Schnee».

Kleine Gruppen von Schülern drängen sich um einen Stand, der Pommes, Leberkässemmeln, Knabberwurst, Puffer, Rösti, Kartoffelecken und ominöse Fladen namens Langos verkauft. Sie werden von einer Truppe älterer Herren aus einem Heim vertrieben, die sich mit Hilfe ihrer Pfleger über die Würste und Brötchen hermachen. Einer, der schielt als ginge die Welt an seiner Nasenspitze zu Ende, hält mit beiden Händen eine «Fanta»-Flasche an seinen Mund und trinkt sie bis zum letzten Tropfen leer. Ein anderer, dem die Mütze nicht recht auf dem Kopf sitzen will, knabbert eifrig an einem Wurstbrötchen und füttert zugleich die Tauben zu seinen Füssen – nach einiger Zeit merkt einer der Aufpasser, dass der Mann den Tauben zwar Wurst und Brot verfüttert, sich selbst aber nur den papierenen Umschlag in den Mund stopft. Die alten Herren bekommen Konkurrenz in Gestalt einer zweiten Truppe aus einem Heim mit etwas jüngeren Patienten. Sie werden angeführt von einem schlaksigen Riesen, der sich in stark gekrümmter Haltung mit ruckartigen Bewegungen übers Pflaster schiebt. Während die Alten zum Schrecken der Pfleger in alle Richtungen auseinanderlaufen, bleiben die Jüngeren ganz dicht beieinander, als könnten sie sich gegenseitig schützen vor den Gefahren dieser Welt. Das Rudel bleibt bei einem Stand stehen, der «Lebenshilfe» heisst und Kerzen verkauft – die Verkäuferin beginnt nervös, ihre Auslage zu ordnen.

Kürzlich habe ich gelesen, dass sich die Träume von Geisteskranken in Nichts von den Träumen jener unterscheiden, die nicht in Heimen wohnen müssen. Ob das stimmt, weiss ich nicht – aber es klingt logisch. Heute Nacht wurde ich erst von einem lachenden Schwein in einen Blumenladen geschubst, später von Ausserirdischen auf ein Schiff entführt, dessen Raucherzonen kleine Thermalbäder in Eisschollen waren. Der Wahnsinn der Nacht hat vielleicht keinen Einfluss auf das, was mich die Vernunft des Tages tun lässt – aber er bestimmt, wie ich mich dabei fühle, die Bewegung meiner Gedanken.

Die Stadt Linz hat nach dem Zweiten Weltkrieg lange darunter gelitten, dass Adolf Hitler hier seinen Ruhestand verbringen wollte. Dass sich seine Träume nicht von den Träumen Geisteskranker unterscheiden sollen, hätte ihm wohl nicht in den Kram gepasst. Mich irritiert meinerseits ein wenig, dass ich mich als Träumer aus denselben Gründen wohl auch nicht von Adolf Hitler differenzieren kann.

Siehe auch

First Publication: XXXXXXXXX 6-4-2014

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