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Ich wollte die Hand meiner Mutter fotografieren – aber ich habe den Apparat in der Tasche gelassen. Stattdessen habe ich die Sonne fotografiert, die sich gerade im staubigen Fenster meiner Wohnung brach, als ich nach Hause kam. (Dienstag, 12. August 2014)

63. Flasche

Was da ist

Cornas Matthieu Barret Les Terrasses 2009

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach Früchten, die am Boden liegen und anfangen, zu Alkohol zu werden – ein leicht säuerliche Note dominiert das Erleben. Mit der Bewegung spielt sich eine heftige Würze in den Vordergrund, die dann aber allmählich sanfteren Tönen weicht. Da ist feuchtes Kaffeepulver, das in einem Papierfilter erkaltet ist. Auch Himbeeren trocknen in der Sonne und geben sich dann und wann für kleine Walderbeeren aus.

Im Mund ist der Wein auf eine fast etwas agressive Art säuerlich, leichte Tannine. Es dominiert eine fidele und etwas banale Fruchtigkeit, die ganz und gar nicht zum Erlebnis der Nase passen will. Es ist als löse sich der Körper eines Teen-Agers aus den Kleidern eines alten Mannes. Hat man diesen Kontrast erst ein wenig verdaut, werden dem Gaumen in fast schon aufdringlicher Weise Walderdbeeren serviert – doch die wirken künstlich wie in einem heftigen Kaugummi. Tiefe wird hier von einer seltsam fruchtigen Säure verhindert, die alles banalisiert.

Während ich mich von diesem enttäuschen lasse, habe ich das Bild meiner Mutter vor Augen, die ich heute in einem Spital am Stadtrand von Basel besucht habe. Seit zwei Monaten bekommt sie ihre Nahrung aus einem Plastiksack, den sie an einer Stange auf Rädern neben sich durch die Welt schiebt – wenn sie denn gerade die Kraft hat, sich zu bewegen. Als ich mich von ihr verabschieden wollte, kam eine junge Ärztin zu Besuch – ein Kopf voller roter Locken und eine Stimme, die sich anhörte als ziehe sie ständig Luft durch die Mundwinkel ein. Sie erklärte meiner Mutter, dass sie bis zur Erholung ihrer akut entzündeten Gallenblase ganz auf die Brühen, Breie und Säfte verzichten müsse, die in den letzten Wochen die kulinarischen Höhepunkte ihres Lebens darstellten. Kaffe ja – aber ohne Milch.

Ob es wohl im Alltag meiner Mutter noch irgendetwas gibt, das sie geniessen kann? Das Geniessen hat mit Hingabe zu tun, mit Konzentration, mit Präsenz – es ist die Kunst, das ins Zentrum zu rücken, was da ist. Wie wäre ich an der Stelle meiner Mutter? Wonach würde ich suchen? Worüber würde ich sprechen? Wie würde ich mit mir umgehen?

Ich habe heute in ihre Augen gesehen, die wässrig geworden sind. Ich mag mich nicht erinnern, dass ich zuvor je in ihre Augen gechaut hätte. Natürlich hat sie immer wieder ihren Blick auf mich gerichtet – und ich wohl auch zurück. Aber in ihren Augen war früher immer eine Intention, ein Plan, sie schienen etwas vorzubereiten, schon ein Stück weiter zu sein, durch die Morgenröte hindurch bereits das Abendrot zu erspähen, sich beim Apéro aufs Dessert zu freuen. Heute aber waren ihre Augen da.

Getrunken am Dienstag, 12. August 2014 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Flaschenpost» (Fr. 72.90 im Mai 2014).

Nächste Flasche

Cornas Matthieu Barret Les Terrasses du Serre

AOC, 2009, 13.5% Vol.

100% Syrah

Rotwein aus dem Tal der Rhône (Frankreich), produziert von Matthieu Barret, Domaine du Coulet, in Cornas (auf Karte anzeigen). Vin de raisins issue de la culture biologique et biodynamique.

First Publication: 30-6-2014

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