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Pariser Untergrund - führt die Tür zu den Schienen von Linie 5? (Sonntag, 1. Juni 2014)

58. Flasche

Auf den Schienen der Linie 5

Cornas Colombo La Roche 2011

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach Brombeeren und nach etwas abgestandenem Orangensaft, der sich mit der Zeit in eine leicht feucht gewordene Pfeffermühle verwandelt. Mit der Bewegung kommen holzigere Noten auf, dunkle Schokolade und entfernt Zimt, das Wasser von Mozzarella. Trotz seiner Jugend hat der Wein in der Nase eine Dichte, eine fruchtige Dringlichkeit.

Das erinnert mich an die Lautsprecherstimme, die Reisenden heute früh in der Pariser Metro-Station République mitteilte, dass die Linie 5 vorübergehend lahmgelegt sei weil jemand auf den Schienen stehe – oder, wie es die Stimme in schönster Amtssprache formulierte: «nos agents sont en cointervention suite à la présence d’un individu sur les voies». Ich wartete auf einem anderen Bahnsteig und konnte also nicht sehen, was wirklich los war. Möglicherweise war ein betrunkener Clochard von seiner Schlafbank in den Schienengraben gerollt. Oder ein übermütiger Teenager wollte seiner Freundin beweisen, dass er halb Paris zu ihren Füssen lahmlegen konnte. Vielleicht spielte sich da auch die finale Szene eines längeren Dramas ab – ein Film dazu müsste zwingend so beginnen: quietschendes Metall, mit rauchenden Pneus schlittert die Linie 5 in Notbremsung über die Schienen, die Passagiere werden in den Wagons übereinander geworfen, Hände greifen verzweifelt nach Haltestangen, ein Mobiltelefon fliegt dicht über dem Boden unter den Sitzen durch. Endlich steht der Zug, dreissig Zentimeter vor einem Mann, der scheinbar unbeteiligt auf den Schienen sitzt, unrasiert, in einem schmutzigen Trenchcoat. Polizisten rasen herbei, Feuerwehrleute, Bahnpersonal, Sanitäter. Während wir wissen, dass sich die Beamten auf ihre Problemlösungsroutinen konzentrieren, rückt der Film das Gesicht des Mannes in den Vordergrund – und blendet dann den Anfang der Geschichte ein, als alles noch gut schien, der Mantel des Mannes noch sauber war und sein Gesicht rasiert. Es ist eigentlich anzunehmen, dass es diesen Film schon gibt. Aber vielleicht war auch alles anders. Vielleicht sah eine Frau, wie die Umrisse einer Gestalt aus ihren Träumen im Tunnel verschwand und folgte ihr in die Dunkelheit – alle Warnrufe ihrer Mitreisenden irgnorierend. Während sich die Welt auf dem Perron der Linie 5 organisiert, um die Verschwundene zu suchen, lieben sich die zwei in einer modrigen Nische, auf ihre Kleider gebettet, zwischen kleinen Tüten mit Rattengift.

Im Mund ist der Wein leicht säuerlich und frisch, dabei doch samtig weich, komplex aber nicht schwer, ein wenig Tannin ist spürbar. Von innen dominieren zunächst eher saure kleine Früchte, Johannisbeeren und Cassis, unreife Brombeeren auch. Der Wein ist etwas verschlossen, doch mit der Zeit lässt sich eine Schokolade-Note und etwas leicht angesengtes Holz aus seinen Tiefen kauen. Lässt man das Glas länger stehen, bildet der Wein ein ziemlich markantes Gewürznelken-Düftchen aus. Auch eine freundliche kleine Kellernote ist da – wen wundert's.

Getrunken am Sonntag, 1. Juni 2014 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «E. Leclerc» in Saint-Louis (€ 26.65 im Januar 2014).

Nächste Flasche

Cornas Jean-Luc Colombo La Roche

AOC, 2011, 13.5% Vol.

100% Syrah

Rotwein aus dem Tal der Rhône (Frankreich), produziert von Jean-Luc Colombo in Cornas (auf Karte anzeigen).

First Publication: 2-6-2014

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