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Die Füsse im Riesling

Wineglass Bay (Australia)
Freycinet National Park
Montag, 24. März 2014

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Wenn man selbst Teil eines Bildes ist, dann ist einem das Bild selbst meist nicht sichtbar. Im Osten von Tasmanien, im Freycinet National Park, gibt es eine berühmte Bucht, die vom Flugzeug aus die Form einer Niere oder eines Pariser Champignons hat, jedoch den ungleich schöneren Namen Wineglass Bay trägt – wohl weil ganz in der Nähe auch Wein angebaut wird.

Auf dem Weg zur Bucht steige ich zunächst zu einem Aussichtspunkt hoch, von dem aus ich die Bay weitgehend übersehen kann. Von da aus führt ein von kleinen Eukalyptus-Bäumen und dürren Büschen beschatteter Weg hinab zum nördlichen Ende des langen Sandstrandes, der den Rand des Weinglases wie ein Champagner-Schäumchen besetzt. Hier schlägt die Brandung mit grosser Wucht auf den Sand, schiessen die Wasserzungen pfeilschnell in Richtung Land, werden zu Schaum, um dann mit einem feinen Perlen die Richtung zu ändern und schliesslich mit einem leisen Glucksen von den nachrauschenden Wassern verschluckt zu werden. Der Schaum hinterlässt eine Art feuchten Schatten auf dem Strand, der sich aber innert Sekunden weder auflöst, nur um gleich erneut, nun aber etwas anders gemalt zu werden.

Ich spaziere dem Schatten entlang nach Süden – je weiter ich komme, desto kleiner werden die Wogen, bis sie schliesslich nur noch sanft gegen das Ufer plätschern. Das andere Ende der Bucht liegt im Windschatten eines kleinen Vorsprungs. Hier stehen Möwen etwas zerstreut an der Brandungskante, baden die Schatten stattlicher Bäume in den dünnen Wasserscheiben, die sich kreuz und quer über den flachen Strand schieben. Ich setzen mich auf einen Stein und stelle meine Füsse so hin, dass sie vom Meer gerade erreicht werden können – das Wasser ist kalt. Aus dem Gebüsch hinter mir krächzt unzufrieden ein Vogel, es hört sich an als quengle er im Befehlston «Mami». Ein anderes Tier quetscht ein «Bitte» heraus – vielleicht ist es auch eher ein «E.T».

Mit der Zeit wird mir bewusst, dass ich in das Territorium einer ganz bestimmtem Möwe eingedrungen bin, die alle anderen Möwen mit einem kehligen Krächzen und weit aufgerissenem Schnabel verjagt. Ich scheine sie nicht zu stören – vielleicht weiss sie auch einfach nicht, wie sie mich wegkrächzen soll. Das Tier hat rote Beine, einen roten Schnabel und ein Gefieder, in dem der Wind helle Grau- und Weisstöne durcheinander bläst. Sie patrouilliert vor meinen Füssen auf und ab – in sicherer Distanz. Dann und wann schlägt sie ihren Schnabel in Teppiche aus kleinen Miesmuscheln hinein, die im Tiden-Bereich an den Steinen hängen. Sie tut das nicht sehr konzentriert, eher en passant – als wolle sie mir zeigen, dass dies hier ihr Futternapf ist: «Ich kann hier naschen so viel ich will – auch wenn ich gar keinen rechten Hunger habe.»

Bei aller Faszination für die Möwe und ihre Territorial-Arbeit – eigentlich beschäftigt mich der Umstand mehr, dass ich so gar nichts von dem «Wineglass» sehe oder spüre, nach dem diese Bucht benannt ist. Dabei sitze ich da, wo die Lippen den Rand des Glases berühren würden. Natürlich ist das naiv – was habe ich erwartet, dass das Meer hier nach Riesling riecht? Was mich irritiert, hat eher mit einer Art Entmachtung der Sprache als Ordnungsinstrument zu tun, die ich hier wahrzunehmen glaube: bevor ich in diese Bucht abstieg, hatte ihr Name einen mystischen Klang, voller Erzählungen, voller Bedeutungen und Stimmungen – jetzt, mit den Füssen im Riesling, sind da nur meine eigenen Launen und die Geschichten einer Möwe. Es scheint mir, also ob sich ein solcher Vorgang schon so oft in meinem Leben wiederholt habe. Viele Begriffe, mit denen wir die Dinge bezeichnen, funktionieren nur aus einer gewissen Distanz – kommt man den Sachen zu nahe, dringt man gar in sie ein, dann lösen sie sich auf. Das heisst, in dem Moment, da wir wirklich mit den Dingen zu tun haben, spielen die Begriffe, mit denen wir sie in der Welt verorten, oft keine Rolle mehr. Vielleicht ist das banal – und wahrscheinlich hat es einfach damit zu tun, dass das Bezeichnende grundsätzlich eher starr ist, das Bezeichnete aber dynamisch. Für mich aber bedeutet das wiederholte Erleben dieser Auflösung der Bedeutung von Begriffen eine fundamentale Irritation – auch wenn das der Möwe natürlich egal sein kann, denn die weiss ja, was verstanden werden soll, wenn sie den Schnabel aufreisst.

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: Smoked Apple Aioli (Knoblauch-Olivenöl-Sauce mit heiss geräucherten Äpfeln und Kartoffeln)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

First Publication: 14-4-2014

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