D | E  

Neuste Beiträge

HOIO und Cookuk

  • Das Tagebuch von Raum Nummer 8 (Susanne Vögeli und Jules Rifke)
  • HOIO-Rezepte in der Kochschule – das andere Tagebuch

Etwas ältere Beiträge

Grosse Projekte

Mundstücke

Gewürze aus Santa Lemusa

Abkürzungen

Die Hühnersuppe

Señora del Rosario (Colombia) Isla Grande
Nahe bei dem grösseren See im Zentrum der Insel
Sonntag, 9. Februar 2014

Ort auf Weltkarte anzeigen

Die Isla Grande ist die grösste Insel im kleinen Archipel Nuestra Señora del Rosario, das rund 40 Kilometer südöstlich von Cartagena vor der karibischen Küste Kolumbiens liegt. Zugleich ist die Isla Grande offenbar die einzige dieser 28 kleinen Inseln, die nicht in Privatbesitz und also öffentlich zugänglich ist. Das Eiland ist von dichten Mangrovenwäldern umschlossen. Die paar kleine Strände dazwischen sind von einem halben Dutzend Ressorts besetzt, die sich mit Mauern oder Zäunen gegen das Innere der Insel abschotten – wohl wegen der Hunde, Hühner und Leguane, die in grosser Zahl durch die Büsche huschen.

Wer in Cartagena einen Tagesausflug zu den Islas del Rosario bucht, wird von einem grossen Boot mit lauter Rost und noch lauterer Rumba in einem dieser Resorts abgesetzt – und ist versorgt: Planschen im Pool, Relaxen am Strand des Hotels, Schnorcheln oder Sonnenbaden auf einem Floss, das den Namen «Rösterei für junge Frauen» trägt. Der Pool hat eine Bar, die man schwimmend erreichen kann – Kaffee ist gratis, und um 13.30 wird das Mittags-Buffet eröffnet (im Ausflugspreis inbegriffen, ebenso wie ein alkoholfreies Getränk). Für Unterhaltung sorgen ausserdem sechs «offizielle Souvenirverkäufer», die inseltypische Produkte wie Korallenketten, Masken aus einem lokalen Stein, Muschelkolliers und Rosenkränze von Gast zu Gast tragen. Um 15h geht es wieder an Bord und zurück nach Cartagena.

Das Angebot ist so beschaffen, dass sich bei einem ängstlichen Menschen wie mir sofort ein Gefühl der Enge einstellt. Auch scheint es keinen Weg aus dem Resort hinaus zu geben, endet doch jeder Pfad vor einem Toilettenhäuschen, in einer leeren Bar oder auf einem Landungssteg, wo ein junges Paar aufgeschreckt seine Hände aus Hosen und T-Shirts haspelt. Aus der Inselwanderung, die ich mir vorgestellt habe, scheint nichts zu werden. Dann finde ich doch noch ein Schlupfloch in der Mauer – und lande prompt in einer Art Verrichtungszone, wo allerlei unterschiedlich stark verrottete Toilettenpapiere wie kleine Fahnen im Wind vor sich hin zittern. Wahrscheinlich bin ich auf der Personal-Toilette angekommen.

Auf Zehenspitzen durchquere ich das Gebiet, um hernach auf den ersten inoffiziellen Souvenirverkäufer der Insel zu stossen. Ich wimmle ihn ab, auch den nächsten und den übernächsten und den überübernächsten – dann gebe ich auf und nehme mir einen zum Führer, zum Freund. Ich frage «mi amigo», ob er mich in das Dorf führen kann, das es in der Mitte der Insel geben muss – denn es sollen rund 300 Personen hier wohnen: 50 haben so etwas wie eine Stelle in einem der Ressorts, 50 schlagen sich als inoffizielle Souvenirverkäufer durch – und alle anderen «haben kein Geld», wie mein Freund sich ausdrückt. Ich interessiere mich nicht für das Dorf, aber irgendein Ziel muss ich ja haben. Eigentlich will ich einfach nur in Ruhe in die Mangroven starren – schauen, ob ich in diesem Gestrüpp über schlammigem Boden, das mir auf den ersten Blick so reizvoll scheint wie eine verdreckte Kaffeetasse, etwas Schönheit entdecken kann. Doch solche Ruhe ist hier, bei 50 Souvenirverkäufern pro freilaufendem Tourist, wohl nicht zu bekommen – ich muss etwas wollen, für das mir mein «grande amigo» später Geld abknöpfen kann. Und er hat recht, denn diese Insel ist sein Wohnzimmer – ich habe mich zu benehmen.

Also rasen wir los, über den einzigen Pfad, den es auf der Insel gibt. Nach etwa einer halben Stunde treffen wir auf ein paar Hütten und einen staubigen Fussballplatz. Im Zentrum des Dorfes liegt eine Hahnenkampf-Arena und daneben sitzen ein paar Männer mit Bierdosen in der Hand um einen Lautsprecher von der Grösse eines Kühlschranks herum – die Champeta ist so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten muss. Unmittelbar daneben sitzt eine alte Frau vor ihrer Hütte und reiht ein paar Perlen zu einer Kette auf – kein Wunder, stirbt die Tradition der Cumbia-Musik aus, die sich die Bewohner dieser Inseln einst von Generation zu Generation ins Ohr gesungen haben.

Da es offenbar kein weiteres Ziel gibt, das wir ansteuern könnten, machen wir uns mit demselben Tempo auf den Rückweg in Richtung Resort. Die Art, wie sich mein Führer über diese Inselautobahn bewegt, ohne irgendein Anzeichen, dass er seine Umgebung überhaupt zur Kenntnis nimmt, erinnert mich an die Panther oder Tiger in Zoos, die hinter ihren Gitterstäben ohne Unterlass auf und ab rasen, als hätten sie ihre Umgebung völlig ausgeblendet, als nähmen sie sich selbst nur noch in dieser Bewegung wahr. Gewöhnlich bedeutet Bewegung auch, dass sich die Landschaft um uns verändert – was aber geschieht, wenn wir diese Umgebung ausblenden? Kaum anzunehmen, dass wir uns dann durch eine Fantasielandschaft bewegen – denn das tun wir ja im Grunde, wenn wir die Umgebung registrieren. Vielleicht spielen dann nur noch Temperaturen, Druckverhältnisse und Körper eine Rolle, denen wir ausweichen müssen.

Ich merke, dass dieses Tempo mehr und mehr ein elendes Gefühl in mir aufsteigen lässt. Also bleibe ich schliesslich in meiner leichten Verzweiflung einfach stehen. Ich habe ein älteres Paar gesehen, das auf bequemen Holzsesseln unter Bäumen fläzt und uns nachschaut. An Ästen und Zweigen hängen allerlei Kleider und kleine Plastiktüten mit feucht wirkendem Inhalt. Im Hintergrund schimmert das Blechdach einer Holzhütte durch die Blätter. Vor dem Paar steht eine Kochherd in der Sonne. Es ist ein Holzgerüst mit einem Beton-Bassin, in dem das Feuer brennt, darüber ein Grill und darauf ein Topf, in dem eine Suppe brodelt. Ich grüsse das Paar und stelle mich stur vor der Küche auf. Ich starre die Konstruktion an als handle es sich um ein Kunstwerk, um ein Monument, um einen Altar, um die eigentliche Attraktion des ganzen Archipels. Ich versuche mir alles einzuprägen, was ich sehe: die Art, wie da Mauerbrocken arrangiert sind, um den Topf zu tragen, das grosse Messer, die Schöpfkelle aus einer halben Kokosnussschale, die Kartoffeln und Kochbananen, die bereit liegen, in die Suppe zu wandern, ein Paket mit Maismehl, ein Töpfchen mit Fett, ein Topf mit Wasser. Mit meiner eigenen Küche hat diese Stätte der Speisezubereitung nur wenig gemein – doch spielt das eine Rolle? Ich präge mir auch die Geräusche ein: das Knacken des Holzes, das Brodeln der Flüssigkeit, die leisen, etwas amüsierten Stimmen des Ehepaars im Hintergrund, das Glucksen eines Huhnes, die Musik aus der Ferne. Und ich registriere den Geruch nach Holz, nach Fleisch, Kräutern, Sonne und Staub.

Ich frage die Frau, was sie da kocht: Hühnersuppe. Ich frage sie nach den Zutaten. Es ist, begleitet von allerlei Scherzen, das normalste Gespräch der Welt.

Irgendwann reisst mich das Scharren meines Führers aus meinen Betrachtungen. Wir spuren uns wieder auf die Inselautobahn ein und rasen zurück in Richtung Resort. Das Tempo macht nun bloss noch meinen Füssen etwas aus, die sich ein wenig an den Bändeln meiner Strandschlappen abscheuern. Ich weiss, dass mein Freund mich ausnehmen wird – so gut er es vermag. Und ich werde es zulassen – soweit ich es mir leisten kann. Es geht mir gut, denn ich habe das Geheimnis der Insel entdeckt, ihren Schatz gehoben.

Siehe auch

First Publication: 2-3-2014

Modifications: