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Ein süsses Geheimnis

Cartagena (Colombia) Portal de los dulces
Carrera 7, Ecke Calle 32
Donnerstag, 6. Februar 2014

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Dass es in Cartagena de los Indios einen Ort braucht, wo man in besonderer Weise dem Süssen huldigt, geht aus der Geschichte hervor. Seit ihrer Gründung im Jahre 1533 durch Pedro de Heredia hat die Stadt so viel Bitteres erlebt, dass sie sich wohl bis heute täglich mit Süssem impfen muss. Cartagena war eine der wichtigsten Bastionen des spanischen Reiches in Übersee, ein Hauptumschlagsort für Sklaven, für Gold, ein wohl ausgestattetes Zentrum der Politik, der Verwaltung, der Inquisition – und entsprechend ein attraktives Angriffsziel. Erst mussten sich die Bewohner ein Jahrhundert lang gegen Piraten vom Zuschnitt eines Francis Drake wehren, dann gegen einen völlig überdimensionierten (und doch nicht erfolgreichen) Angriff der Briten. Cartagena war eine der ersten Städte, die sich von Spanien lossagten – sie wurde jedoch sofort und mit enormer Gewalt wieder ins Reich integriert. Erst 1821 gelang es den Truppen von Simón Bolívar, auch Cartagena zu befreien – er gab der Stadt dann auch den Zunamen, den sie seither mit Stolz durch die Jahre trägt: «La Heroica».

Der Portal de los dulces, der «Säulengang der Süssigkeiten», ist das perfekte Gegengift. Im rechtwinklig angelegten Netz aus Strassen, die sich hinter den massiven Mauern und Bastionen der Stadt durch die Zeiten träumen, ist der Portikus eine mit Zucker gefüllte Ader. Der Gang ist wohl etwas 400 Meter lang und schiebt sich durch das Parterre von stattlichen Häusern aus der Kolonialzeit mit farbigen Fassaden und hölzernen Balkonen. Am einen Ende liegt die Schalterstube der «Cambios y Comisionas Oscar», in der zu jeder Zeit des Tages eine junge Frau sitzt und Geld zählt. Am anderen Ende hat sich das «Hard Rock Cafe» von Cartagena eingerichtet, in dem schon am Morgen manchmal junge Bands aus Kolumbien ihr Talent unter Beweis stellen, oder wenigstens ihre Lautstärke. Dazwischen reihen sich etwa zwei Dutzend kleine, weiss gestrichene Stände auf, die alle mehr oder weniger dieselben Süssigkeiten verkaufen : «Enyucado», «Caballito», «Panderito», «Melcocha», «Casadilla», «Diabolina», «Alegria», «Suspiro» – alles Namen, die Gaumenglück seufzen und Schluckseligkeit versprechen. Allerdings sehen die Stücklein eher aus, als würden sie allesamt in derselben Fabrik hergestellt – wäre da Handwerk im Spiel, müsste man zwischen den verschiedenen Ständen einen Unterschied wahrnehmen können. Es wird indes auch nirgends behauptet, die Süssigkeiten seien «artisanal» – nur wenn sie das nicht sind, warum braucht es dann zwei Dutzend Verkaufsstände in Reih und Glied? Man muss nicht alles verstehen.

Dennoch ist man ein wenig irritiert, wenn man am Morgen sieht, wie die Verkäuferinnen das Gebäck aus grossen Kartonkisten in die Gläser mit ihren leicht angerosteten Schraubdeckeln schaufeln, in denen sich die Dulces dann einen Tag lang in Reih und Glied recht hübsch präsentieren.

An den Ständen sieht man mehrheitlich Frauen, wobei es bei der Jüngsten noch lange dauern wird, bis ihr die Brüste wachsen – derweilen es bei der Ältesten schon viele Jahre her ist, dass sie ihren letzten Zahn ausgespuckt hat. Ja an einem Stand sitzt eine Alte, deren Bewegungen so langsam sind, dass selbst ein Faultier daneben wie in Raserei wirken würde. Sie drückt sich eine Bola de Harina gegen die leicht geöffneten Lippen, denn sie muss den Teig der Kugel erst mit ihrem Speichel aufweichen, ehe sie Zucker, Mehl und Butter in sich aufsaugen kann. Es sieht aus, als befinde sie sich in einem innigen Kuss mit dem Gebäck, ihrem Amado de esta mañana.

Kunden sieht man nur selten – ja man kann sich eigentlich auch kaum vorstellen, unter welchen Umständen der Handel mit diesen fetten Staubigkeiten wirklich etwas abwerfen könnte. Die Verführungen wirken wie Verführungen aus einer anderen Zeit – einer Zeit, als die Biskuit-Dose das Epizentrum aller süssen Universen war. Heute verkauft jeder Kiosk Leckereien, die zwar meist fürchterliche Schöpfungen aus dem Chemielabor sind, dabei aber ganz gezielt unsere Sinne und unsere Fresslust reizen.

Die Verkäuferinnen scheinen keinerlei Ehrgeiz zu haben, eigene Produkte oder Spezialitäten anzubieten. Also geht es vielleicht auch nicht (mehr) um die Sache selbst, sondern darum, einen Beitrag zur Erhaltung eines Symbols zu leisten – und auch darum, einen Platz zu haben, eine professionelle Zugehörigkeit, eine Aufgabe. In einer Welt voller Unsicherheiten, wie sie das heutige Kolumbien darstellt, ist der Portal de los dulces ein wohliger Ort der Fraglosigkeit. Das ist es vielleicht, was das eigentümlichste Gebäck auf diesem Markt uns verraten will: die Muñecas de leche stellten wohl einst segnende Christkinder dar. Die Zeit aber hat aus den Jung-Pantokratoren kleine Bübchen gemacht, die einen Finger an ihre Lippen gelegt haben, als wollten sie uns daran erinnern, dass wir ein Geheimnis zu bewahren haben, ein süsses notabene.

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: Panderitos (Kleine Kekse aus Maniokmehl)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

First Publication: 3-3-2014

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