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Als Tourist ist man schlicht ein ökonomischer Faktor in einem System – das hat auch einen Einfluss auf die Art und Weise, wie man sich selbst auf diesem Planeten sieht. Das Hemd von diesem Bügel in meiner Zürcher Wohnung fliegt mit mir nach Bogotá. (Dienstag, 4. Februar 2014)

47. Flasche

Das Leben als Pax

Valais Pinot noir Les Titans 2010

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach unreifen Pflaumen und Muskatblüte, ein wenig nach frisch gewaschenen Steinfliesen auch. Mit der Zeit wird die Muskatblüte von einer getrockneten Sauerkirsche verscheucht. Mit der Bewegung gewinnt der Wein an Frische, er hat jetzt etwas von einem eben aufgetragenen Rasierwasser, und ist leicht scharf. Auf jeden Fall sind wir in einem sehr sauberen Badezimmer. Mit der Beruhigung kommt Frucht zurück, Kirsche, die dann zu getrockneter Kirsche wird und sich einen ganz leichten Kaffeeduft zulegt.

Im Mund ist der Wein kompakt, eher säuerlich, rund und etwas rauh, komplex. Von innen bietet der Pinot nur wenig Frucht, es dominiert ein ledriges Toffee, und nach dem Kauen bleibt eine helle Schokolade-Note zurück, in der wieder eine Muskatnuss am Werk ist. Das ist mir nun schon öfters aufgefallen: Habe ich einen Wein erst einmal im Mund gehabt, so verändert sich auch seine Wahrnehmung von aussen – als würde da irgendein Hebel in der Wahrnehmungsmechamik umgelegt. In diesem Fall bekommt die Frucht einen lieblichen Twist, in Richtung Himbeere. Aber auch die Muskatblüte tanzt weiter mit.

Dass ein Angsthase, wie ich einer bin, überhaupt zu grösseren Reisen aufbricht, ist das Resultat eines Tricks. Wenn ich die Reise plane, dann tue ich das als würde ich für eine andere Person Flüge buchen und Hotels reservieren. Die Aufgabe «Reisen» steht auf einem anderen Blatt geschrieben – es kommt erst auf den Tisch, wenn der Gaul im vollen Zaumzeug vor der Tür steht, bereit in die Ferne zu rasen. Dann allerdings taucht gelegentlich die Frage auf, warum ich mich eigentlich in Situationen begebe, in denen mein Leben nur noch so viel wert ist, wie meine Kreditkarte hergibt. Denn als Tourist ist man ja kein Mensch, der denkt und liebt, der geliebt und gedacht wird – und also Respekt und Sorgfalt verdient. Als Tourist ist man ist schlicht eine ökonomische Grösse. Das mulmige Gefühl ist je nach Destination mehr oder weniger stark ausgeprägt – im Fall von Kolumbien ist es nicht ganz schwach. Kurz darauf taucht fast zwingend die Frage auf, ob denn mein Leben in Zürich wirklich mehr wert ist als das, was meine Kreditkarte hergibt? Für meine Entourage vielleicht schon – aber sonst? Für mich bedeutet das Reisen immer auch, dass ich mich selbst als Faktor in einem gigantischen ökonomischen Gefüge denke, ich werde zum «Pax», wie die Luftfahrtgesellschaften ihre Passagiere nennen, zur Nummer, zum Material. Das reisst mir keinen Teppich unter den Füssen weg, denn ich kann dem meine eigene Welt entgegenhalten – aber ich werde mir auf andere Art bewusst, was für einem Zufall ich das Königreich meiner Gedanken schulde, und wie empfindlich, wie ungeschützt dieses Imperium ist. Gleichzeitig fühle ich, was ich sonst nur weiss, nämlich dass jeder Mensch auf diesem Planeten ein Universum ist, das mit seiner Geburt beginnt – und im Moment seines Todes erlischt.

Der Wein hat auch etwas, das mich an Wald erinnert – er schmeckt nicht direkt harzig, und doch lässt mich etwas an das Holz von Nadelbäumen denken. Die Lakritze, die auf der rückseitigen Etikette versprochen wird, kann ich in dem Wein nicht finden – oder ist sie vielleicht mein Wald?

Getrunken am Dienstag, 4. Februar 2014 in der Küche meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Provins» in Sion (Fr. 35.90 im Oktober 2013).

Nächste Flasche

Valais Pinot noir Les Titans

AOC, 2010, 13.5% Vol.

100% Pinot noir

Rotwein aus dem Wallis (Schweiz), produziert von Provins Valais in Sion (auf Karte anzeigen). Cértifié par Luc Cermier, œnologue. Text von der Etikette: «C'est à une altitude de 1500 mètres, dans une galerie de 300 mètres de profondeur dans le Val d'Annivers que ce vin a atteint sa maturité en barriques avant d'être mis en bouteille. Cértifié par Luc Cermier, œnologue.»

First Publication: 7-2-2014

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