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Begegnung am Bellevue: zwei Sorten Engel im Zürcher Weihnachtstram. (Donnerstag, 28. November 2013)

30. Flasche

Schiefe Flügel

Valais Pinot noir Maître de Chais 2011

Von aussen unbewegt riecht der Wein nach dunklen Früchten, etwas säuerlich, leicht nach Holz und Schokolade. Mit der Zeit macht sich eine Kaffeenote bemerkbar. Die Drehung bringt zunächst eine Kirsche in den Vordergrund, dazu ein leichtes Alkoholparfum. Himbeere kitzelt dann und wann eine Ahnung von heller Vanille.

Im Mund ist der Wein eher bitter, fruchtig, mit gut eingebundenen Tanninen, komplex, halbrund. Von innen riecht er nach bitteren Kirschen, wie sie auf zu stark gebackenen Früchtekuchen vorkommen, auch bittere Schokolade ist da, und wieder steht eine Tasse mit Mokka auf dem Tisch. Ich denke auch an ein Zwetschgenkompott mit etwas Zwetschgenschnaps, eher von der wenig gezuckerten Art. Auch irrt ein etwas oberflächlicher Vanilleton durch die Gänge.

Nun ist es wieder unterwegs, das Weihnachtstram der Zürcher Verkehrsbetriebe, heute habe ich es zum ersten Mal gesehen. Es hat eine so leuchtend orange Farbe, dass es problemlos auch als buddhistisches Betteltram durchgehen würde. Auf den Seitenwänden allerdings schauen Cherubinen in den Himmel, die mit den kleinen Kerlen verwandt sein müssen, die zu Füssen von Raphaels Sixtinischer Madonna auf endliche Erlösung aus der Hölle ihrer milliardenfachen Existenz auf Postkarten und Lebkuchendosen hoffen. Gesteuert wird das Tram von einem Weihnachtsmann. An Bord dürfen ausschliesslich Kinder. Sie werden von zwei weissen Engeln betreut, denen die Flügel immer etwas schief auf den Schultern sitzen. Gerne stelle ich mir vor, wie sie auf Fragen antworten wie: «Sprechen eigentlich alle Engel Züritüütsch?» – «Natürlich, das ist die offizielle Amtssprache im Himmel» oder «Nein, nur die guten, die bösen haben eine Basler Akzent, und die gefallenen Engel reden Italienisch wie Berlusconi.» Gut möglich, dass derlei politische Früherziehung an Bord des Zürcher Weihnachtstrams stattfindet. Ich kann es nicht kontrollieren – denn ich darf ja nicht mitfahren. Allerdings sind die Kinder in dem Tram meist so klein, das man sie von aussen gar nicht sieht – und es also ausschaut, als seien Engel die einzigen Passagiere an Bord. Einer sitzt hinten und einer weiter vorn – offenbar haben sie den Kindern rein gar nichts zu erzählen, vielleicht läuft ja auch einfach ein Tonband mit irgendeiner Weihnachtsgeschichte. Also blicken die Engel verträumt aus dem Fenster, auf die festlich beleuchtete Stadt. Für einen Moment sehe ich sie als Raphaels kleine Cherubinen, die erwachsen geworden sind. Während die Putten von etwas träumen, dass wohl nie stattfinden wird, sehne sich die erwachsenen Engel vielleicht nach etwas zurück, das nie stattgefunden hat. Gäbe es ein Bild, das besser zu Weihnachten passt?

Beim Abschied ist der Pinot noir ganz vergorene Frucht.

Getrunken am Donnerstag, 28. November 2013 im Wasserzimmer meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Provins» in Sion (Fr. 23.30 im Oktober 2013).

Nächste Flasche

Valais Pinot noir Maître de Chais

AOC, 2011, 13.5% Vol.

100% Pinot noir

Rotwein aus dem Wallis (Schweiz), produziert von Provins Valais in Sion (auf Karte anzeigen). Certifié par Madeleine Gay, Oenologue. Elevé en fûts de chêne.

First Publication: 29-11-2013

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