D | E  

Neuste Beiträge

HOIO und Cookuk

  • Das Tagebuch von Raum Nummer 8 (Susanne Vögeli und Jules Rifke)
  • HOIO-Rezepte in der Kochschule – das andere Tagebuch

Etwas ältere Beiträge

Grosse Projekte

Mundstücke

Gewürze aus Santa Lemusa

Abkürzungen

Manchmal habe ich das Gefühl, die Muttermale auf meinem Körper seien die Zeichen einer Sprache, die ich nicht verstehe – mein Dermatologe in Zürich aber meinte heute, sie hätten nichts zu sagen. (Montag, 11. Oktober 2013)

27. Flasche

Die letzte Flasche

Valais Pinot noir de Salquenen Grand Métral 2012

Von aussen riecht der Wein unbewegt sehr verhalten nach unreifer Kirsche. Mit der Bewegung kommt eine stinkige Note dazu, Ziegenstall am ehesten, aber geputzt. Der Stall verwandelt sich in frisch gewaschene Arbeiter-Hände, die Himbeeren zerquetschen. Dann wird rohes Fleisch serviert, auf einem Tannenzweig. Zwischendurch wird immer wieder die Stalltür aufgestossen, dringt ein feiner Duft von tierischem Urin an unsere Nase, der allmählich immer stärkere Noten von Rauch und Russ entwickelt. Im Mund ist der Pinot noir dünn, eher süss, weich, mit mittlerem Körper. Von innen riecht der Wein nach Zwetschge, wie sie sich im Zwetschgenschnaps ausdrückt. Auch eine würzige Braten-Sauce steht herum – und etwas aus dem Aromaspektrum von reifem Münsterkäse, ein Flageolett-Ton daraus. Mit der Zeit rauschen ein paar exotische Würznoten auf fliegenden Teppichen vorbei – sie sind indes nicht so nachhaltig, dass man ihnen nachfliegen könnte. Dann konkretisiert sich eine mit Himbeeressig abgeschmeckte Béchamel-Sauce.

Heute las ich in einem Interview mit einem berühmten Koch die Frage: Welchen Wein würden Sie trinken, wenn Sie wüssten, dass dies Ihre letzte Flasche ist? Ich weiss den Namen des Kochs nicht mehr – aber er hatte einen Bart. Auch seine Antwort habe ich vergessen – wahrscheinlich war es ein Château Cheval blanc mit einem bestimmten Jahrgang. Die Frage allerdings trottete mir den ganze Tag nach wie einer jener Strassenköter, die nicht wissen, was sie sonst tun sollen. Ich hatte keineswegs den Ehrgeiz, selbst eine letzte Flasche auszuwählen – aber etwas an dieser Frage liess mich nicht in Ruhe, auch jetzt nicht, da ich diesen Pinot noir vor mir im Glas kreisen lasse. Wenn dies der letzte Wein wäre, den ich in meinem Leben entkorke, müsste es dann nicht eine bessere Flasche sein? Nur welcher Wein wäre gut genug, als letzter Wein getrunken zu werden? Ich liess ein paar Namen durch meine Gedanken springen – so wie man im Halbschlaf Schafe über eine Hürde hüpfen lässt, um sie besser zählen zu können. Mehr und mehr wurde mir bewusst, dass mich wohl bei jeder Wahl die Ungewissheit plagen würde, ob es nicht doch noch einen besseren Wein gäbe. Meine Konzentration auf den Wein würde also von der Unsicherheit irritiert, ob ich nicht vielleicht die falsche Wahl getroffen hätte? Daraus kann im Grunde nur folgern, dass jeder Wein genau der richtige ist, als letzter getrunken zu werden.

Mit der Zeit setzen sich bei diesem Pinot noir die angerauchten Fruchtnoten in die erste Reihe, wobei Gesamteindruck instabil bleibt, voller Ahnungen. Im Abgang schiebt er eine aufregend Bitterkeit nach.

Getrunken am Montag, 11. November 2013 im Wasserzimmer meiner Wohnung über dem Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich (Schweiz). Gekauft bei «Provins» in Sion (Fr. 14.90 im Oktober 2013).

Nächste Flasche

Valais Pinot noir de Salquenen Grand Métral

AOC, 2012, 13.5% Vol.

100% Pinot noir

Rotwein aus dem Wallis (Schweiz), produziert von Provins Valais in Salgesch (auf Karte anzeigen) und Sion. Certifié par Madeleine Gay, Oenologue.

First Publication: 12-11-2013

Modifications: