Bezirk: Ouest (Vorwahl 04) – Karte
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Kurzbeschreibung: Auf diesem Strand erklärte einst der Pianist André Degeyter einer Tänzerin mit viel Aufwand seine grosse Liebe – ohne erhört zu werden, was indirekt musikalische Ereignisse der besonderen Art provozierte.
Spezialitäten: Jarret de veau «Odalia»
Mitten auf der Plage des Grillons (gelegentlich auch nur Plage du Grillon genannt) steht eine von Wellen und Wetter weitgehend zum Einsturz gebrachte Konstruktion aus Holz. Was heute wie die Ruine eines Landungsstegs aussieht, war einst eine Konzertbühne, auf der André Degeyter seine dressierten Insekten musizieren liess.
Degeyter war Pianist an Bord der «Lorraine», eines Passagierschiffs der Compagnie Générale Transatlantique, das 1912 auf dem Weg nach New York ausnahmsweise im Hafen von Port-Louis anlegen musste – Grund waren Schwierigkeiten mit der Funkanlage, die ein unheimliches Zirpen und Rauschen auf dem Schiff verursacht hatte. Bei einem Landgang lernte Degeyter im «Lajwa» die schöne Odalia (eigentlich Odahild Schabasi-Dürck) kennen – eine Tänzerin deutsch-persischer Herkunft. Die junge Dame hatte einen ziemlichen Effekt auf den Musiker aus dem Elsass, der seinen Dienst auf der «Lorraine» quittierte und sich als Pianist im «Lajwa» bewarb. Vergeblich allerdings, denn Madame Berthe, die Besitzerin des Etablissements, hielt den jungen Mann fälschlicherweise für den Komponisten der «Internationale» – und wollte sich unnötigen Ärger ersparen. Odalia fand ein gewissen Gefallen an dem stürmischen Musiker und liess sich von ihm gerne den Hof machen.
Abend für Abend sass Degeyter im «Lajwa» und verfolgte mit verliebten Augen jede Bewegung seiner Odalia. Tagsüber aber hatte er anderes zu tun. Für wenig Geld hatte er eine Strandhütte etwas südlich von Port-Louis gekauft und verwandelte sie allmählich in einen orientalischen Palast, in dem er seine Angebetete dereinst feierlich zu empfangen gedachte. Dabei kam ihm zu Hilfe, dass er viele Jahre lang als Theaterdekorateur in Strassburg und Paris gearbeitet hatte. Er baute allerdings auch einen ansehnlichen Landungssteg, dem er den Namen Jetée d'Alibaba gab. Ausserdem brachte er sich orientalische Melodien bei und lernte persische Verse auswendig. Degeyter versuchte gar, Speisen zu kochen, die er als persisch empfand – dabei war ihm ein ehemaliger Mitmusiker aus Wien nützlich, der einst durch Persien gereist war und ihm seine kulinarischen Erinnerungen in einem Brief so detailliert wie möglich beschrieb. Da er auf Santa Lemusa damals offenbar keinen Safran bekommen konnte (oder er ihm zu teuer war), kaufte sich der Pianist ein Stück Land am Mont Kara, nahe bei dem Weiler Ahoa, und pflanzte dort seinen eigenen Safran an. Der Verkäufer war Aimé Zorrotz, ein Gewürzhändler aus Port-Louis, der selbst am Mont Kara mit dem Anbau von Küchenkrokus experimentiert hatte.
Nach zwei Jahren Vorbereitung war alles bereit und Degeyter machte Odalia an einem warmen Abend im November 1914 seine Aufwartung. In Europa tobte seit einigen Wochen der Erste Weltkrieg und auch in Port-Louis waren die Menschen verunsichert, weshalb nur noch wenige Gäste ins «Lajwa» kamen. Grund genug, treue Kunden noch etwas freundlicher zu behandeln als gewöhnlich. Ausserdem war es das erste Mal, dass der junge Mann sich traute, Odalia auf ein Glas Champagner ausserhalb des Lajwa einzuladen – und also folgte sie ihm gerne. Sie gingen zum Hafen, wo Degeyter ein kleines Dampfboot mitsamt Mannschaft gemietet hatte. Das Schiff war feierlich mit Tüchern behängt und im Innern stand eine Art Thron, auf dem sich Odalia niederliess. Schnell dirigierten die Seeleute das Boot aus dem Hafen und nahmen Kurs in Richtung Süden. Der Lärm des Motors war ohrenbetäuben – Degeyter musste also brüllen, um der Tänzerin Komplimente bezügliche ihrer Schönheit, ihres Rhythmusgefühls, ihrer Geschmeidigkeit machen zu können. Odalia trank Champagner – und die Seeleute kicherten vor sich hin. So gelangten sie zur Jetée d'Ali Baba und legten an. Degeyter half Odalia aus dem Boot und führte sie über den Steg an den Strand. Als sie vor dem Tor zu seinem ‹Palast› anlangten, deren Äusseres von Palmen so beschattet war, dass man kaum erkennen konnte, was für eine unscheinbare Architektur sich hinter der pompös inszenierten Fassade verbarg, sagte er «Sesam, öffne dich» – und stiess gleichzeitig die Türe auf.
Das Innere der Hütte war ganz mit dunkelroten und golden glänzenden Tüchern ausgehängt, von der Decke baumelten Kandelaber mit Hunderten von brennenden Kerzen. Am Boden lagen Teppiche kreuz und quer übereinander, mehrere Zentimeter dick. Auf den Teppichen standen bronzene Gefässe, aus denen allerlei Weihrauchdüfte aufstiegen. Aus grossen Vasen wuchsen armdicke Büschel von Blumen – und vor den Wänden posierten Diener in grünen Gewändern, die Degeyter eigens für diesen Abend angeheuert und eingekleidet hatte. In der Mitte des Raumes war ein niedriger Tisch platziert, und darum herum luden Polster und Kissen zum Sitzen ein. Hinter dieser Möbelgruppe wackelte ein Piano auf dem dicken Teppichboden hin und her. Degeyter führte Odalia zu einem grossen Kissen, das ganz aus goldenen Fäden gewirkt schien. Dann klatschte er in die Hände und die Diener begannen, Platten mit duftenden Speisen und Kannen mit Wein aufzutragen.
Degeyter setzte sich ans Piano und fing an, orientalisch angehauchte Melodien zu spielen – unter anderem nach Vorlagen von Félicien David. Dann wechselte er zu Schumann und Brahms, um schliesslich zum Höhepunkt zu kommen – einer Version des Ständchens aus dem Schwanengesang von Schubert, dessen Text er eigenhändig in eine Liebeserklärung der besonderen Art verwandelt hatte (mehr dazu). Als die letzten Töne verklungen waren, sprang der Pianist auf, riss sich das Hemd vom Leib, warf sich vor Odalia zu Boden und hielt ihr mit ausgestreckten Armen eine neunschwänzige Katze hin. Odalia fühlte ein Zucken in ihren Waden. Nur zu gerne hätte sie ihren Fuss auf Degeyters nackten Rücken gestellt – so, wie das Jäger mit ihrer Beute tun. Sie spürte, dass sie der Gedanke erregte, die Peitsche zu nehmen, und den Mann zu schlagen, ihn auf allen Vieren vor sich her über den Teppichboden zu treiben, ihn anzuherrschen, ihm sinnlose Befehle zu geben, ihn zu unwürdigen Handlungen zu zwingen, ihm mit den Fingernägeln tiefe Striemen in die Haut zu kratzen… Doch diese Gefühle waren zu stark für die junge Frau – und also sprang sie auf, warf die Peitsche einem der Diener an den Kopf und rannte aus dem Palast und über den Strand davon.
Degeyter entliess die Diener, löschte die Kerzen und schob dann das Piano aus der Hütte und über Bretter am Strand bis zum Steg. Er setzte sich hin und spielte. Er spielte die ganze Nacht und spielte auch noch in den Morgen hinein – er spielte alles, was er kannte, in alphabetischer Reihenfolge Abeille, Brahms, Chopin, Debussy, Elgar, Franck, Gounod, Händel, Infanti, Joilvet, Kreutzer, Liszt, Mahler, Novello, Offenbach, Puccini, Quantz, Rossini und immer wieder das Ständchen von Schubert. Und zu Schubert sang er die Worte unterwürfiger Liebe, die er für Odalia gedichtet hatte. Degeyter hatte eine fürchterliche Stimme, tief und rau – aber da war ja auch niemand, der zugehört hätte. So ging das drei Tage und drei Nächte lang. In der dritten Nacht endlich nickte Degeyter für ein paar Minuten ein. Als er aufwachte, war ihm, als sängen die Grillen um ihn herum lauter als sonst, als seien sie ihm näher gekommen. Er begann zu spielen, natürlich Schubert – doch da kam es ihm vor, als zirpten die Grillen mit, als nähmen sie die Melodie des Ständchens auf. Er zog die Finger von der Tastatur – und da verstummten auch die Grillen. Er setzte von Neuem an – und sofort stimmten die Tiere ein.
Odalia war ins «Lajwa» zurück gekehrt und tat, als sei nichts geschehen. Auf die Fragen von Madame Berthe, der Besitzerin des Etablissements, antwortete sie ausweichend – doch nachts wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her, im Kampf mit ihren Emotionen. Wenige Tage nach dem fatalen Abend in Degeyters Hütten-Palazzo fand sie eine kleine Schachtel in ihrer Garderobe vor – darin lag eine Safranblume. Auch am nächsten Tag lag da wieder eine kleine Box mit einer lila-violetten Blüte drin – so ging das weiter, Tag um Tag. Und als die Zeit der Blüten vorbei war, da erhielt sie kleine Kästchen mit etwas getrockneter Safran-Narbe drin. Die Geschenke hatten keinen Absender – doch natürlich Odalia wusste Odalia, wer sie schickte.
Degeyter brachte die Tage damit zu, seine Safran-Äcker in Ahoa zu beernten, die sich als ungewöhnlich fruchtbar erwiesen. Um die Pflanzen möglichst gleich nach Erscheinen pflücken zu können, setzte er sich im Morgengrauen mit einer Decke in die Mitte seiner Plantage. Er dämmerte vor sich hin, dann und wann aber erhob er sich und kniff die frisch erschienenen Blüten vom Boden los. Gegen Abend zupfte er die Narben aus den Blüten und trocknete sie über einem Feuer. Dann kehrte er auf seine Jetée d'Alibaba zurück, spielte die Nacht hindurch – und die Grillen sangen mit ihm, besonders innig wenn er das Ständchen von Schubert intonierte. Die seltsame Musik entging auch den Fischern nicht, die in der Bucht vor dem Strand auf Aalfang waren. Und es dauerte nicht lange bis sich Nacht um Nacht eine kleine Gemeinde mit Booten vor Degeyters Strand versammelte, dem eigentümlichen Konzert beizuwohnen.
Odalia fühlte sich schlecht, und das entging auch ihrer Chefin nicht. Immer öfter kam es vor, dass die junge Frau während ihres Tanzes strauchelte – ein Mal fiel sie gar beim Betreten der Bühne in Ohnmacht. Natürlich hatte Madame Berthe auch von Degeyters nächtlichen Konzerten gehört – und es dauerte nicht lange, bis sie ganz genau wusste, was los war. Also fuhr sie eines Nachts mit ihren Schützling in einem Boot zu jenem Strand hinaus, den man seit kurzem «Plage des Grillons» nannte. Als die junge Frau den Pianisten wiedersah und hörte, wie selbst die Grillen in seine Liebeserklärung einstimmten, da schossen ihr die Tränen in die Augen. «Wie kann es sein, dass er mich rührt und ich doch solche Lust verspüre, ihm mit meinen Fingernägeln blutige Rillen in die Haut zu ziehen?», schluchzte sie und warf sich in die Arme von Madame Berthe. «Nun, wenn ihm das gefällt, dann tu ihm den Gefallen doch», sagte Madame: «Ich glaube, ihr wärt ein glückliches Paar.»
Wie genau Degeyter und Odalia glücklich wurden, darüber ist wenig bekannt. Auf jeden Fall arbeiteten sie beide viele Jahre lang im «Lajwa», bis zum Niedergang des Etablissements in den frühen 1920er Jahren. Daneben kultivierten sie Safran am Mont Kara – mit so viel Erfolg, dass sie bald sämtliche Restaurants der Insel und auch diverse Geschäfte beliefern konnten. Sie heirateten, zeugten zwei Töchter und nannten sie Justine und Juliette – ihrer Safran-Plantage gaben sie den Namen «Mont Fouet».
Und die Grillen? Nun, Degeyter selbst spielte nie wieder am Strand. Er verkaufte die Hütte mitsamt dem Steg und schaffte das Piano in ein neues Haus, das er in Ahoa bauen liess. Verschiedene Musiker versuchten später, die Tiere der «Plage des Grillons» dazu zu bringen, auf ihr Spiel zu reagieren – offenbar ohne Erfolg. Noch heute allerdings sieht man dann und wann einen jungen Geiger oder Trompeter am Strand stehen und in die Nacht hinein spielen. Dass die Grillen mitsingen, ist eher unwahrscheinlich. Doch wer weiss, vielleicht kommt es ja auch darauf an, wie man zuhört.
First Publication: 2-11-2013
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