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Eine Vorstellung der Welt

Hardangervidda (Norway)
Über dem See Heinungen (südlich der Riksvei 7)
Freitag, 2. August 2013

Ort auf Weltkarte anzeigen

Meist wissen wir, wo wir sind. Das heisst wir haben eine Vorstellung der Welt im Kopf, eine Art Karte, auf der wir uns an einem bestimmten Punkt verorten.  Diese Vorstellung hat natürlich sehr viel mit den geographischen Karten zu tun, die uns seit frühesten Tagen immer wieder vor Augen geführt werden – stets verknüpft mit der Behauptung, dies sei «Die Welt». Wiederholung schafft Wahrscheinlichkeit, vielleicht Realität – oder sie bewirkt zumindest, dass wir uns an die Dinge gewöhnen. Kein Wunder also, akzeptieren wir diese Vorstellung mehr und mehr als ein akkurates Bild der Erde. Und also begreifen wir uns selbst vielleicht als einen mikroskopisch kleinen Punkt auf dieser Karte, der sich per Flugzeug, Auto oder Fahrrad von New York nach Moskau, von Zürich nach München, von der Bäckerei in die Weinhandlung verschiebt. Ganz präzise muss diese Verortung gar nicht sein – meist reicht uns schon die Gewissheit, dass wir uns, wenn nötig, jederzeit exakt lokalisieren könnten. Die Überzeugung, dass wir die von uns momentan besetzten Quadratmillimeter der Welt ganz genau zu bestimmen vermöchten, gibt uns auch die Sicherheit, dass wir einen Platz auf dieser Welt haben, dass wir an einem ganz bestimmten Ort sind – und nicht irgendwo, von der Welt verloren. Damit gibt uns die Gewissheit unserer Lokalisierbarkeit auch Selbstvertrauen - Zuversicht, dass wir sind.

Die Vorstellung führt dazu, dass die Erde für uns eine bestimmte Gestalt und Grösse hat, zu der wir uns in ein Verhältnis setzen, die wir vermessen können – auch wenn unser Körper natürlich ein lächerlich kleiner Massstab ist für die Weiten der Welt. All dies stiftet Ruhe und Ordnung in unserem Gemüt. Auch gibt es nicht viel, was diese Vorstellung irritieren würde – im Gegenteil: unsere Transportsysteme und Verkehrswege, unsere Gartenanlagen und Felder, Wohnungen und öffentlichen Plätze, die Beschreibungen und Beschilderungen der Welt sind so beschaffen, dass sie mit der uns anerzogenen Vorstellung optimal korrespondieren. Denn wir haben uns, in der westlichen Hemisphäre zumindest, auf eine bestimmte Vorstellung der Welt geeinigt – so wie wir uns darauf geeinigt haben, dass gewisse Laute bestimmte Dinge bedeuten.

Erst wenn alle Beschilderungen plötzlich wegfallen, wenn keine Berge und keine Architekturen mehr das Mass vorgeben und keine Strassen mehr da sind, die uns vernetzen, dann gerät unsere Vorstellung der Welt plötzlich ins Wanken. Die Hardangervidda, die grösste Hochebene Europas, ist so eine Landschaft, in der es plötzlich keine Rolle mehr spielt, ob man hier steht oder da, ob man in die Richtung blickt oder in die andere geht. Und mit einem Male erscheint die Vorstellung, die uns sonst so zielsicher durch die Welt reisen lässt, als eine kühne Behauptung. Die endlosen scheinenden Weiten ohne Ausrichtung und ohne Hierarchie stellen zwar keine Gegenbehauptung auf, sie entlarven unsere Vorstellung nicht als falsch, aber sie säen einen Zweifel, der uns zutiefst verwirrt – oder anders gesagt: sie lassen die erlernte Vorstellung als nicht mehr denn EINE Möglichkeit erscheinen. Das beunruhigt – und es stösst auch irgendwo etwas auf, denn mit jedem Schritt hier bewegt man sich aus seinem Bild der Welt hinaus in etwas anderes hinein, das noch nicht mehr ist als eine ebenso ferne wie ungeheure Ahnung, dass alles auch ganz anders gedacht werden könnte.

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: Fårikål (Schaffleisch und Weisskohl, mit Salz und Pfeffer gekocht)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

First Publication: 8-8-2013

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