Gefüllte Lammkutteln und Kalbsfüsse in Weisswein und Tomate geschmort – ein Rezept zu Peter Polters 130704 Marseille Vieux Port
Pieds Paquets sind eine Spezialität der Küche von Marseille. Es sind Lammfüsschen und kleine Pakete aus Lammkutteln, die sehr lange in einer Sauce aus Tomaten und Weisswein geschmort werden. Das Rezept soll die Erfindung eines Louis Ginouvès sein, der um 1880 als Koch in einem Restaurant des Quartiers La Pomme in Marseille tätig war – er soll sich bei den Tripes à la mode de Caen inspiriert haben, ersetze jedoch den Rinderpansen durch Lamm. Auf dem offiziellen Schild zur «Histoire de Marseille», das im Quartier La Pomme aufgehängt ist, liest man folgendes: «Vers le milieu du 19ème siècle, la Pomme acquit une renommée gastronomique grâce aux pieds et paquets de la mère Maurel. Plusieurs restaurants en firent leur spécialité jusqu'aux années 1930. A Marseille, les filettes sautaient à la corde en chantant ‹Nous irons à la Pomme manger les paquets›». Es scheint indes eher unwahrscheinlich, dass die Pieds Paquets die Erfindung eines einzelnen Kochs gewesen sein sollen – solche Rezepte, bei denen es auch um das Konservieren leicht verderblicher Schlachtabfälle geht, haben doch oft eine längere Tradition. Wie auch immer – auf jeden Fall soll 1993 auch eine «Charte des pieds et paquets» gegründet worden sein, die jedoch auf dem Internet zumindest nicht allzu präsent ist.
Wir hatten Pieds Paquets à la Marseillaise erstmals im Alter von etwa 13 oder 14 Jahren – auf einer Reise mit unseren Grosseltern, Eltern und Brüdern. Zum Schrecken unserer Vorfahren und zum Amüsement unserer Geschwister, bestellten wir diese Speise mit ihrem gleichermassen mystisch und gewaltig klingenden Namen am Abend eines Ostersonntags in einem Restaurant irgendwo im Luberon (vielleicht war es in Cucuron). Es schmeckte etwas zu stark nach Thymian, was für unseren damaligen Gaumen ungewohnt war, und die Konsistenz war in Teilen etwas ledrig – soviel erinnern wir, immerhin. Ausserdem waren wir überzeugt, dass es sich bei den ominösen paquets um die Hoden eines Rindes handeln müsse – und waren entsprechend stolz, dass uns ihr Verzehr gelungen war. Der Mythos vom Hoden-Paket löste sich dann erst einige Jahrzehnte später auf – als wir Pieds Paquets in Marseille vorgesetzt bekamen.
Zuletzt assen wir Pieds Paquets «Chez Madie les Galinettes» in Marseille. Das Restaurant gehört zu den wenigen Lokalen direkt am Hafen, die seit Jahren eine Küche von unerschütterlicher Qualität bieten – und Touristen mit einer so freundlichen Selbstverständlichkeit bedienen als handle es sich um ganz normale Menschen. Die Pieds Paquets wurden in einer sämigen orangen Sauce serviert, die markant nach Tomate, Gewürzen und Fleisch roch, in der jedoch kaum noch Gemüsestücken etc. auszumachen waren. Die Paquets waren fast noch ein wenig zäh und hatten einen dezenten Kuttelgeschmack, verbunden mit krautigen und speckigen Noten aus der Farce. Das Lammfüsschen war sehr klein und viel zu schnell gänzlich ab- und ausgeschlürft. Wir beschlossen also, das Rezept nachzukochen – gewissermassen auch, um einen Mythos aus unserer Kindheit in einen anderen Aggregatszustand zu überführen.
Um es vorauszunehmen: Pieds Paquets à la Marseillaise in der Schweiz zu kochen, ist im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit. Das Rezept selbst ist ziemlich einfach – die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, sich die nötigen Zutaten zu besorgen. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass in Helvetien fast ausschliesslich Schnitzelchen, Steaks und andere sogenannte «Prime Cuts» vom lieben Vieh verzehrt werden. Alle ‹minderen› Stücke werden im besten Fall zu Wurst, zu obskuren Nebenprodukten, oder aber sie wandern in den Müll. Man hat auch schon Versuche unternommen, die Innereien aus heimischen Schlachthöfen nach China zu exportieren, wo solche Dinge hoch im Kurs stehen – doch scheiterte das Unternehmen an der mangelnden Hygiene in den Schweizer Fabriken (NZZ am Sonntag, 2. Juni 2013, S. 12).
Für die Herstellung von Pieds Paquets à la Marseillaise braucht es Lammkutteln (für die Paquets) und Lammfüsschen. Schon Rinderkutteln sind in der Schweiz oft nur schwer zu bekommen, von Kalbskutteln gar nicht zu sprechen – und wer seinen Metzger nach Lammkutteln fragt, der erntet nur einen skeptischen Blick und vielleicht einen freundlichen Rat: «Warum überraschen sie ihre Gäste nicht lieber mit einem Filet vom Pata Negra Schwein?». Wir haben versucht, die Lammkutteln durch Rinderkutteln zu ersetzen – und uns dafür Kutteln am Stück besorgt, was bereits den Gang zu einem Spezialmetzger nötig machte. Schon beim Kauf wussten wir im Grunde, dass wir aus diesem Pansen keine Paquets à la Marseillaise würden herstellen können: Lammkutteln sind im Durschnitt nur etwa 3 bis 5 mm dick, Rinderkutteln aber 1.5 bis 2 cm. Um aus Rinderkuttel mit der Paquet-technik (die auf mehrfachem Einschlagen der Enden beruht, Genaueres weiter unten) ein Paket zu formen, müsste man ein Stück Kuttel etwa von der Grösse eines Blattes im Format A4 verwenden – und erhielte folglich ein Riesen-Paket von mehr als einem Pfund Gewicht. Wir haben deshalb versucht, mit Hilfe von Küchenschnur kleinere Pakete aus der Rinderkuttel zu schnüren – wissend, das ein einfach gefalteter Pansen auch bei sorgfältigster Schnürtechnik während des langen Schmorens die Farce nicht oder nur teilweise in seinem Innern behalten würde. Ehrlich gesagt waren wir dann beim Essen fast erstaunt, überhaupt noch ein wenig Farce im Innern der weich und schlabbrig gewordenen Päckchen anzutreffen. Trotzdem war dies natürlich keine Lösung – liegt der Reiz der originalen Paquets doch gerade darin, dass sie dank der im Innern des Pansen eingesperrten Farce eine andere Konsistenz und ein anderes Aroma haben als die Sauce, in der alles kocht. Lammkutteln bekommt man in der Schweiz nur bei den türkischen Metzgern – und dort leider nur in ungeputzter Form. Dies bedeutet, dass man für die Reinigung wenigstens eine Stunde Arbeit aufwenden muss (mehr dazu hier) – und die Küche, ja die Wohnung hernach stundenlang nach dem rohen Pansen riecht. Wenn Gäste erwartet werden, ist das in den meisten Fällen sicher nicht ideal – doch da man Pieds Paquets, wie alle Schmorgerichte, sowieso besser am Vortag zubereitet und dann wieder aufwärmt, kann man das möglicherweise in Kauf nehmen.
Wenn man wirklich will, kann man sich also auch in der Schweiz Lammkutteln besorgen. Anders steht die Sache bei den Lammfüsschen. Sämtliche Metzger, die wir fragten – auch die türkischen – gaben einhellig an, dass sie Lammfüsschen grundsätzlich nie im Angebot haben: «Zu viel Arbeit, zu wenig dran» – so in ungefähr die Auskunft. Also haben wir Lamm durch Kalb ersetzt. Das Kalb lebt zwar auf deutlich grösserem Fuss als das Lamm, und die Extremität muss folglich in Scheiben geschnitten werden, um den Schmortopf nicht gänzlich zu verstopfen – aromatisch aber ist der Kalbsfuss durchaus ein anständiger Ersatz (und zum Glück bietet er etwas mehr von dem herrlich schleimigen, leimigen Bindegewebe, das nur Füsse in unseren Mund zaubern können).
Der Rest ist schnell erzählt. Natürlich gibt es verschiedene Versionen des Rezepts – doch sie weichen in den wichtigen Fragen kaum voneinander ab. Einer der zentralen Punkte ist die Kochzeit, die lange, sehr lange zu sein hat.
Die Zugabe von Zitronenteste und Zitronensaft entspricht zwar nicht der reinen Lehre, verleiht dem Gericht aber eine frische und eine ätherische Note, die uns sehr gut gefällt – es soll Frankreichs Starkoch Alain Ducasse gewesen sein, der seine Pieds Paquets erstmals mit diesem Trick auffrischte (er gab ausserdem auch etwas Orangenzeste bei).
Unsere Pieds Paquets schmecken kräftig nach Lamm und nach gekochter Tomate, nach Speck und Gewürzen, und sie haben (wie etwa Andouillette) jenen leichten, wirklich nur ganz leichten Fäkal- oder Stallgeruch, der uns und einigen unserer Gäste ein verzücktes Lächeln ins Gesicht zaubert – derweilen er andere erbleichen lässt. Die Farce schmeckt frisch, ein wenig krautig und merklich nach Knoblauch – ein schöner Kontrast zur Sauce, die sie umgibt. Wir servieren die Pieds Paquets mit Pellkartoffeln.
Garzeit mindestens 6 Stunden
50 g geräucherter Speck, gewürfelt – für die Farce
20 g flache Petersilie, gehackt – für die Farce
4 Zehen Knoblauch, gehackt – für die Farce
1 TL schwarzer Pfeffer, grob gemahlen – für die Farce
1 Lammkuttel von ca. 800 g, gesäubert und blanchiert, am Stück
1 EL Olivenöl
80 g Speck, in Würfeln
1 grössere Zwiebel (130 g), fein gehackt
3 Zehen Knoblauch, zerdrückt
1 kleine Lauchstange 120 g, geputzt , geviertelt und fein geschnitten
200 g Karotte, geviertelt und gehackt
500 g Tomate, nicht zu grob gehackt
5-6 dl sehr kräftige Brühe (zum Beispiel Hühnerbrühe)
5-6 dl Weisswein
½ dl Absinth (je nach Gusto auch Cognac etc.)
4-6 Stück Kalbsfuss (800 g), in Scheiben, etwa 2 Minuten in kochendem Wasser blanchiert
6 kleine Zweiglein Thymian (oder auch mehr)
Lorbeer1 kleine Zwiebel (100 g), mit 6 Nelken gespickt
Salz zum Abschmecken
Abrieb von 1 Zitrone
Saft von ½ bis 1 Zitrone
Schmorgerichte schmecken in aller Regel besser, wenn sie wieder aufgewärmt werden. Nach Möglichkeit sollte man die Pieds Paquets also am Vortag zubereiten, über Nacht auf dem Herd auskühlen lassen und dann einige Stunden in den Eisschrank stellen, bevor man sie wieder sanft erwärmt und schliesslich abschmeckt und serviert. Wer sich und den kleinen Paketen diese Zeit gibt, kann die Sauce auch gut entfetten: Nach einiger Zeit im Kühlschrank bildet das Fett eine feste Schicht auf der Oberfläche der Sauce, die mit einem Löffel leicht abgenommen werden kann. Unnötig zu sagen, dass sich die Pieds Paquets natürlich auch gut eignen, im Tiefkühlschrank auf ihren Einsatz zu warten (was sie auch zu einem perfekten Restaurant-Essen macht).
Wer keine Lust hat, den Kampf mit der ungereinigten Lammkuttel auf sich zu nehmen, kann das Rezept natürlich auch mit vorgegarter Rinderkuttel kochen, wie man sie auch in der Schweiz in besser sortierten Metzgereien findet. Die Zutaten für die Farce fallen dann natürlich weg. Aroma und Konsistenz sind zwar dann etwas anders – aber fein schmeckt die Sache auch ohne die Päckchen. Den oben beschriebenen Versuch, Rinderpansen in Paquet-Gestalt zu bringen, empfehlen wir explizit nicht zur Nachahmung – es lohnt sich nicht, die Differenz zur simplen Version mit einfacher Rinderkuttel ist zu gering.
First Publication: 17-7-2013
Modifications: