Geschmorter Ochsenschwanz mit einem ‹exotischen› Trio aus getrockneten Tomaten, geräuchertem Chili und Canelo – ein Rezept zu Peter Polters Episoda 120825 Bettmerhorn
Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts wanderten zahlreiche Walliser nach Amerika aus, vor allem nach Argentinien. Besonders viele liessen sich in San Jerónimo Norte im Nordosten des Landes nieder, wo heute noch manche Einwohner den Walliser Dialekt beherrschen. Die Siedlung soll 1858 von Ricardo Foster und Lorenzo Bodenmann zusammen mit anderen Auswanderern aus Visperterminen (Tärbinu) gegründet worden sein. Eine gute Zusammenfassung der Geschichte der Walliser Auswanderer liefert eine Maturaarbeit von Melanie Ritz aus dem Kollegium Spiritus Sanctus Brig, die sich integral auf der Webseite des virtuellen Walliser Museums findet.
Das nachfolgende Rezept ist das Resultat der wahrscheinlich eher fantastischen Vorstellung, einer dieser Auswanderer, nennen wir ihn Josef, also Schosi, habe irgendwann beschlossen, die beschwerliche Reise über den grossen Ozean noch ein Mal auf sich zu nehmen, um der Heimat einen Besuch abzustatten. Wir stellen uns vor, dass Schosi in seinem Gepäck auch drei typisch südamerikanische Lebensmittel mitführte, mit denen er seine Bekannten überraschen wollte – in getrockneter Form natürlich, dauerte die Reise doch mehrere Wochen: Getrocknete Tomaten, getrocknete und vielleicht zusätzlich durch Rauch haltbar gemachte Chilis, und Canelo, die getrockneten Früchte der Winterrinde.
Die Tomate stammt ursprünglich aus Mittel- und Südamerika. Sie wurde zwar schon in der frühen Kolonialzeit nach Europa importiert, doch lange nur als Zierpflanze gehalten. Erst um 1800 begann man sie in einzelnen Ländern auch vermehrt zu essen – zunächst offenbar vor allem in Italien und Grossbritannien. Die deutschsprachigen Länder brauchten etwas länger, die Tomate für ihre Küche zu entdecken. Laut dem «Standard» vom 7. August 2011 wurden Tomaten auf der Wiener Weltausstellung 1873 präsentiert, «…doch auf den Märkten gab es sie erst um 1900 – und es dauerte bis nach dem Zweiten Weltkrieg, dass sie tatsächlich überall erhältlich war: In manchen Alpentälern gab es sie erst in den 50er-Jahren, als dort die ersten Supermärkte aufsperrten.» Wann die Tomate das Wallis erreichte, wissen wir nicht – aber mit grosser Wahrscheinlich dürften sie für die Walliser im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts noch eine ziemliches Exotikum gewesen sein.
Noch länger dauerte es, bis der Chili seinen Einzug hielt in den Küchen des nördlichen Europa. Und Canelo (Drymis winteri), das wild in den Wäldern Patagoniens wächst, findet auch heute nur sehr selten den Weg über den Atlantik – weshalb wir Canelo in unserem Rezept durch den ähnlich schmeckenden und botanisch verwandten Tasmanischen Pfeffer (Drimys lanceolata) ersetzen.
Auf jeden Fall dürften Schosis Mitbringsel den Daheimgeblieben ziemlich exotisch vorgekommen sein. Also stellte sich der Heimkehrer höchstpersönlich an den Herd, um das Mitgebrachte in eine bekömmliche Form zu bringen. Er kombinierte es mit Dingen, die es damals im Wallis ganz bestimmt gab: Gutes Rindfleisch (auch wenn es sicher nicht alltäglich war), Trockenfleisch, Zwiebeln, einen nicht zu süssen Weisswein (zum Beispiel Johannisberg, der laut dem Walliser Reb- und Weinmuseum 1862 erstmals erwähnt wird), einen Schluck Aprikosenschnaps und ein Sträusschen Alpen-Thymian. Er kochte Ochsenschwanz, denn es gab viel zu erzählen – und könnte man sich dafür eine bessere Umgebung vorstellen als die sich allmählich entwickelnden Düften des ersten Walliserisch-Südamerikanischen Fusion-Gerichts der Geschichte?
Ochsenschwanz «Schosi» hat einen feierlichen Fleischgeschmack mit lauter Binnennoten, die gut in eine sommerliche Berghütte passen. Er schmeckt deftig geröstet, dezent rauchig, leicht süss und ein wenig nach Unterholz. Das Gericht ist auch ein bisschen scharf – für einen Oberwalliser Gaumen des mittleren 19. Jahrhunderts wahrscheinlich sogar «enz schorf». Das Fleisch sollte so lange gekocht werden, dass es sich fast von alleine vom Knochen löst – dann ist es butterzart und ein wenig gelatinös, also herrlich klebrig und schlabberig. Es scheint uns im Zweifelsfall auch nicht allzu schlimm, wenn das Fleisch schon etwas vom Knochen gefallen ist – ein zäher Schlepp ist ganz bestimmt der grössere Genussverderber.
Das Gelingen des Gerichts hängt weitgehend vom Topf ab, den man verwendet. In einem schweren Topf mit einem Deckel, der das Kondenswasser wieder in das Gargut zurückführt, kann das Fleisch stundenlang vor sich hin köcheln. Besitzt man keinen solchen Topf, dann muss man vermutlich immer wieder Flüssigkeit angiessen.
Die angegebenen 5 bis 6 Stunden Kochzeit mögen jenen lang erscheinen, die noch nie selbst Ochsenschwanz zubereitet haben. Und tatsächlich gibt es ja auch Kochbuchautoren, die ihren Oxtail in nur zwei Stunden weich bekommen (wenn auch sicher nicht ohne himmlischen Beistand). Tatsächlich sind 5 Stunden eher knapp bemessen: Es kann zwar sein, dass das Fleisch nach 5 Stunden schon von alleine vom Knochen fällt und also butterweich ist. Es kann aber auch sein, dass man einen Ochsenschlepp erwischt hat, dessen Fleisch auch nach 6 Stunden noch zäh und fest am Knochen sitzt – dann muss man die Kochzeit entsprechend verlängern. Wenn man Pech hat, dann erwischt man Stücke von verschiedenen Schwänzen mit unterschiedlichen Kocheigenschaften, was eine akkurate Anpassung der Schmorzeit natürlich erschwert. Es ist deshalb wohl besser, einen ganzen Schlepp bei einem Metzger zu bestellen und vor Ort in Stücke zersägen zu lassen.
Wie fast alle Schmorgerichte, schmeckt auch der Ochsenschwanz «Schosi» wieder aufgewärmt ganz besonders gut. Es bietet sich deshalb an, die Kochzeit zu staffeln. Zum Beispiel kann man den Ochsenschwanz am Morgen aufsetzen und 4 Stunden köcheln lassen. Dann lässt man ihn abkühlen und ziehen. Um 16 h bringt man ihn nochmals zum Kochen, köchelt 1 Stunde und lässt ihn wieder abkühlen. 1 Stunde vor dem Essen dann bringt man das Gericht wieder zum Kochen und hebt schliesslich den Deckel ab, damit die Sauce ein wenig eindicken kann.
Zum Ochsenschwanz «Schosi» passen zum Beispiel Pellkartoffeln sehr gut, auch Polenta ist lecker. Als Wein gefällt uns dazu ein Pinot Noir aus Visperterminen mit einem dezenten, gut eingebundenen Brombeeraroma.
Kochzeit 5 bis 6 Stunden
1.2 kg Ochsenschwanz, in etwa 5 bis 7 cm langen Stücken
3 TL Salz
2 TL schwarzer Pfeffer, gemahlen
3 EL Pflanzenöl (zum Beispiel Rapsöl) zum Anbraten des Fleisches
1 EL Pflanzenöl zum Anbraten von Zwiebeln, Trockenfleisch etc.
2 Zwiebeln, in feinen Scheiben
50 g Trockenfleisch vom Rind, feine Tranchen, in Streifen geschnitten
12 getrocknete Tomaten, in Streifen
4 Chipotle Chilis (oder andere geräucherte Chilis), 30 Minuten in 2 dl heissem Wasser eingelegt (auch dieses Einweichwasser wird verwendet)
1 gehäufter EL Tasmanischer Pfeffer (als Ersatz für das argentinische Canelo)
1 kleines Sträusschen Berg-Thymian, mit Kochschnur zusammengebunden
4 dl Weisswein (zum Beispiel ein «Johannisberg» aus Visperterminen)
2 EL Aprikosenschnaps
Ein paar Thymianblümchen für die Dekoration (natürlich kein Muss, aber ein schöner Kontrast zum dunklen Fleisch)
First Publication: 10-6-2013
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