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Ein Besuch in Dok Karuso's Cabinet médical / Institut d'interprétation du chili.

Dok Karuso

Das Cabinet médical von Dok Karuso in Ada, auch bekannt als Institut d'interprétation du chili, gehört zu den etwas spezielleren Arztpraxen von Santa Lemusa. Durch eine niedrige, mit einem rot eingefärbten Lammfell verhängte Türe tritt man gebeugten Hauptes in eine weniger als mannshohe Hütte ein und setzt sich dem Pfefferschoten-Doktor gegenüber auf den Boden. Die Hütte ist so über und über mit Astwerk vollgestopft, dass man sich vorkommt wie in einem Vogelnest. An jedem Ästchen aber hängt ein Chili, und auch am Boden liegen überall Schoten herum – schwarze, gelbe, grüne und leuchtend rote, glänzende Knirpse und schrumpelige Riesen. Es gibt Glasbehälter, die mit Chilipasten gefüllt sind und andere, in denen irgendwelche Wurzeln zu schwimmen scheinen – zweifellos auch das Bestandteile der Chili-Pflanze. Das laute Zittern eines Gasbrenners lässt die Luft vibrieren. Es riecht nach Rauch, nach Erde und auch ein wenig nach Schweiss.

Dok Karuso ist bloss mit einer schwarzen Küchenschürze bekleidet, auf seinem Haupt trägt er eine Seefahrer-Mütze und auf seine Oberarme sind, den Ankern von Matrosen ähnlich, Chili-Schoten gemalt. Weder spricht er mit seinen Patienten, noch schaut er sie auch nur an, denn es sind die Pfefferschoten, die ihm verraten, was dem Gegenüber fehlt. Mit höchster Konzentration greift er nach einzelnen Exemplaren und wirft sie in den Kessel, der neben ihm brodelt. Dann und wann steigen einem beissend scharfe Gerüche in die Nase – dann kocht Dok Karuso gerade einen besonders scharfes Früchtchen aus. Wenn die Rezeptur stimmt, dann «schweigen die Chilis», wie Karuso es einmal genannt hat. Nun bringt der Heiler ein altes Grammophon in Gang. Das Intermezzo («Agnus Dei») aus Georges Bizets «Arlésienne» scheppert durch die Luft – gesungen von Enrico Caruso. Dok Karuso ist überzeugt, dass er ein Nachfahre ist von Enrico Caruso und der Opernsängerin Ada Giachetti, mit der Caruso einige Jahre in wilder Ehe lebte. Zum Schluss der Prozedur giesst der Dok etwas von der Brühe aus dem Kessel in ein Fläschchen und streckt es seinem Patienten hin. Ende der Audienz.

Archibaldo Karuso kommt 2002 als Medizinstudent nach Ada, um Fakten für seine Dissertation über die Heilkraft des «Piment Cancan» (Capsicum frutescens var. Christensen) zu sammeln. Während der Recherchen gelangt er zur Erkenntnis, dass Ada Christensen (siehe Ada), die Erfinderin des legendären «Piment Cancan», dank ihres regelmässigen Chili-Konsums immer noch am Leben sein müsse – und auch immer noch so jung wie auf dem einzigen Foto, das von ihr überliefert ist. Karuso ist sicher, dass sich Ada aus Angst vor Neidern irgendwo in einer Höhle versteckt. Er machte sich auf, die mindestens hundertjährige Tänzerin zu finden. Nach drei Monaten kehrt er in die Zivilisation zurück – mit langen Haaren und überzeugt, dass er Ada gesehen und von ihr die Sprache der Pfefferschoten gelernt hat. Nur Tage später eröffnete er in einem kleinen Gartenhaus sein Cabinet médical, das er auch Institut d'interprétation du chili nennt. Hier übersetzt er nun Tag für Tag die Botschaften der Capsicum-Früchte in heilsame Essenzen. Inwiewit die Bewohner von Ada tatsächlich an die heilende Kraft von Dok Karuso's Tinkturen glauben, sei dahingestellt – sein Cabinet médical jedenfalls gehört unterdessen fest zum Inventar der Gemeinde.

Blick an einem grossen Baum vorbei aufs weite Meer hinaus.

Siehe auch

First Publication: 1-11-2012

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