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Fragmente eines Glasfensters, das 1928 in der Chapelle St-Anne eingesetzt wurde. Die Scherben zeigen die Heilige Anna als nackte Blondine, die ihre Linke auf das Haupt einer Hirschkuh legt – das Fenster soll von einem Schweizer Glasmaler names Ernst Rinderspacher geschaffen worden sein. (Bild Musée historique Santa Lemusa)

St-Anne des Biches

So sehr sie auf der ganzen Insel verehrt wird, St-Anne des Biches ist keine Heilige – jedenfalls keine, die dem Papst in Rom bekannt wäre. Eher handelt es sich bei dieser Anna der Hirschkühe um eine Sagenfigur – wann und warum sie zu St-Anne wurde, wissen wir nicht. Georgette Muelas («Santa Lemusa», S 93) vermutet ein Missverständnis. Sie glaubt zu wissen, dass die Gemeinde St-Anne en Pyès, in deren Gegend die sagenhafte Anna gewirkt haben soll, ursprünglich nach der Mutter der Jungfrau Maria benannt worden sei. Irgendwann habe jemand den falschen Schluss gezogen, bei der Heiligen Anna im Namen des Dorfes müsse es sich um die sagenhafte Anna der Hirschkühe handeln. Eine Verknüpfung, die offenbar nicht mehr aus der Welt verschwinden wollte – auf jeden Fall sind heute auch die Bewohner von St-Anne en Pyès überzeugt, dass St-Anne des Biches die Namenspatronin ihrer Gemeinde ist.

Die Sage von Anna und den Hirschkühen dürfte auf jeden Fall sehr alt sein – Varianten gibt es zu Hauff. Wir geben die Geschichte hier so wieder, wie Georgette Muelas sie erzählt. Demnach soll es in dem Dorf, das heute St-Anne en Pyès heisst, einst einen Schmied namens Spuck gegeben haben, der für seine Kraft und die Feinheit seiner Schmiedekunst ebenso berühmt war wie für seine Hässlichkeit. Spuck war mit der ausserordentlich schönen und um einige Jahre jüngeren Geneviève verheiratet – offenbar wegen einer Wette, die ihr Vater verloren hatte. Geneviève liess keine Gelegenheit aus, sich in der Öffentlichkeit über die Hässlichkeit ihres Gemahls lustig zu machen – und setzte ihm auch manche Hörner auf. Eines Tages merkte der Schmied, dass Geneviève ihn nicht nur mit seinem eigenen Gehilfen betrog, sondern auch noch in seinem eigenen Bett. Da fertigte er ein feines Netz aus Eisen an, das er über dem Bett in Stellung brachte. Als Geneviève und der Gehilfe sich in dem Bett zu lieben begannen, liess er das Gespinst herabfallen und setzte die beiden so fest. Er trommelte die Bewohner des Dorfes zusammen und zeigte ihnen, wie ihm seine Frau und der Gehilfe in die Falle gegangen waren. Die Dorfbewohner umringten das Bett, sie grölten und quiekten, kicherten und gackerten vor lauter Vergnügen. Plötzlich aber wurde sich der Schmied bewusst, dass die Leute gar nicht über die zwei Gefangenen lachten, sondern über ihn, den hässlichen Alten und seine Eifersucht. Zutiefst gekränkt und gleichzeitig erregt vom Bild seiner nackten Frau, die sich den gierigen Blicken der Männer des Dorfes offenbar mit Vergnügen aussetzte, rannte er in den Wald und trieb sein Glied dort unter Tränen in das Wurzelwerk eines grossen Wacholderbaumes.

Neun Monate später gebar der Baum ein kleines Mädchen – Anna, wie sie später genannt wurde. Der Säugling wurde von Hirschen aufgenommen, die in der Gegend lebten, und von den Kühen des Rudels gesäugt. Anna wuchs mit den Hirschen auf. Wenngleich von graziler Anmutung, entwickelte das Mädchen eine ganz enorme Körperkraft und schon mit fünf Jahren rang sie den stärksten Bullen des Rudels im Zweikampf nieder. So kam es, dass Anna mit den Hirschkühen allein durch die Wälder zog – als deren Anführerin.

Eines Tages begegneten sie einem Jäger, der einen Pfeil auf eine der Kühe abschoss und sie an der Schulter verletzte. Anna riss einen riesigen Steinbrocken aus der Erde und schleuderte ihn in Richtung des Jägers, der die Flucht ergriff. Gleichzeitig aber merkte Anna auch, dass sie mehr mit dem Jäger gemein hatte als mit den Hirschkühen ihres Rudels. Sie folgte dem Mann und kam zu dem Dorf, das heute St-Anne en Pyès heisst. Hier sah sie noch mehr Menschen und fühlte sich seltsam zu ihnen hingezogen. In der Folge entwickelte sich Anna zu der sagenhaften Beschützerin der Felder, als die sie heute verehrt wird. Zwar soll sie nie mit Menschen in direkten Kontakt gekommen sein, aber sie vollbrachte zahlreiche Taten zu deren Wohl. So räumte sie etwa alle grossen Steine aus den Äckern der Bauern und errichtet aus ihnen Mauern zum Schutz der Feldfrüchte vor den Attacken von Wildschweinen und anderen gefrässigen Waldbewohnern. Die Steinreihen, die man heute noch in der Gegend von St-Anne en Pyès findet, gelten der Legende nach als ihr Werk. Anna soll auch eine Jägerin aus einer Schlucht gezogen und einen Jäger vor dem Angriff eines verletzten Ebers geschützt haben. Ausserdem soll sie ein Waldmonster nieder gerungen haben, das Kinder aus dem Dorf gefangen hielt.

Wie das starke Mädchen zu dem Namen Anna kam, wissen wir nicht. Oft heisst es allerdings, die Hirsche selbst hätten ihre Anführerin Anna genannt. Laut Emanuelle Batinomn von der Société de Chasse St-Anne, kann man aus dem charakteristischen Rufen namentlich von Damhirschkühen durchaus den Namen Anna heraushören.

In der Forêt dé mi gibt es eine kleine, in den Felsen geschlagene Kapelle, die St-Anne des Biches gewidmet ist – ein einfacher Andachtsraum. Da, wo sich gewöhnlich der Altar befinden müsste, öffnet sich die Kapelle hin auf ein Flüsschen. 1928 setzte man in diese Öffnung ein bemaltes Glasfenster, das jedoch nach wenigen Jahren in die Brücke ging. Von dem Fenster haben sich nur zwei Fragmente erhalten (heute im Musée historique in Port-Louis). Sie zeigen eine junge nackte Frau mit blondem Haar, die ihr Linke auf das Haupt einer Hirschkuh legt. Offenbar hatte die Gemeinde dieses Bild bei einem Schweizer Glaskünstler namens Ernst Rinderspacher bestellt.

Noch in den 50er Jahren muss auf der Mauer dieser Kapelle ein Fresko sichtbar gewesen sein, das die kleine Anna zeigte wie sie am Euter einer Hirschkuh trinkt. Heute sind die Mauern der Kapelle blank, aber die Société de Chasse Léopold bewahrt noch einen alten Kalender aus dem Jahr 1955, auf dem das Fresko abgebildet ist – offenbar die einzige erhaltene Fotografie der Malerei. Datum und Autor des Werks sind unbekannt.

Wer sich eine gute Ernte wünscht oder Parasiten aus seinen Feldern vertreiben will, zündet eine Kerze in der Kapelle an und legt ein paar Wachholderbeeren dazu. St-Anne ist aber nicht nur die Beschützerin der Felder, sie ist auch die Schutzpatronin der Jäger und (!) des Wildes. Es gibt verschiedene Gebete an St-Anne des Biches – das populärste ist nur wenige Zeilen lang:

O bienheureuse Sainte Anne des Biches,
me voici prosterné devant toi,
le coeur plein de la plus sincère vénération.
Tu es cette créature privilégiée
et particulièrement chérie,
qui, par ses vertus extraordinaires
protège nos champs
et tient sa main par dessus
tout nos pas dans fôrets et prés.
Nous t'offrons ces fruits
pour te remercier de ta protection.

Auf Santa Lemusa ist man übrigens überzeugt, dass der Wacholder  seinen Namen von der schönen Geneviève bekommen hat und nicht, wie es sonst heisst, eine französische Form von juniperus (=«bitter») darstellt. Deshalb heisst das französische Wort auf Santa Lemusa auch meist genèvie und nicht wie sonst genièvre – da mögen sich die Etymologen noch so die Haare raufen. Ausserdem heisst es, dass der Baum erst seit der Geburt von St-Anne Früchte ausbilde, zuvor habe er sich wie Nadelholzgewächse via Zapfen vermehrt. Um die Fruchtbarkeit zu erhöhen, legen die Bauern ihrem Vieh deshalb gelegentlich Ketten aus Wacholderbeeren um den Hals. Und junge Frauen tragen solche Ketten heimlich um den Bauch, wenn sie sich einen Liebhaber wünschen. Man nennt die Wacholder-Beeren auf Santa Lemusa deshalb auch Perles de St-Anne.

Wenn man diesen Damhirschkühen zuhört, dann könnte man durchaus meinen, sie riefen «Anna» in den Wald.

Die Chapelle St-Anne in der Forêt dé mi ist ein ebenso schlichter wie magischer Ort.
Wer sich etwas von St-Anne des Biches wünscht, zündet in der Kapelle eine Kerze an und deponiert ein paar Wacholderbeeren.
Dieses Fresko aus der Chapelle St-Anne, das die kleine Anna zeigt wie sie am Euter einer Hirschkuh saugt, existiert heute nur noch als Foto auf einem Kalender von 1955. (Bild Société de Chasse Léopold)

Siehe auch

First Publication: 7-10-2012

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