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Vietnam Airlines, Flug von Phnom Penh nach Ho Chi Minh City

Szene 12

Als Vielflieger verliert man das Gefühl für das Wunder, das es doch eigentlich ist, mit einem Glas Weisswein in der Hand über den Wolken um die Erdpflaume zu düsen.

Maille schloss deshalb die Augen und versuchte sich in das Flugzeug einzufühlen – mit einer ähnlichen Konzentration wie man sich beim autogenen Training Wärmegefühle in bestimmte Körperteile zaubert. Es funktionierte und bald spürte er das kleinste Loch in der Luft, die kleinste Schwankung der Maschine, jedes Zittern der Propeller. Angst machte das nicht – im Gegenteil: Es überkam ihn ein eigentümliches Gefühl der Geborgenheit, fast als handle es sich bei dem Flugzeug der Vietnam Airlines um eine riesige Wiege, beim hochfrequenzigen Zwitschern der Elektronik um ein Schlaflied, das mit übersetzter Geschwindigkeit abgespielt wurde. Während Maille versuchte, den Text zu verstehen, tauchte sein Hirn in einen angenehm wattigen Zustand zwischen Wachen und Schlafen ab, in eine exquisite Dämmerung, an deren Horizont Gedanken wie Sonnenbälle aufgingen und wieder versanken. Einer dieser Sterne hatte die Form der Stadt Brasilia, deren Grundriss ja ebenfalls die Gestalt eines Flugzeugs beschreibt – als Wiege einer ganzen, neuen Nation.