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Peking, Konfuziustempel

Szene 14

Am Ende der Anlage gab es eine grosse Halle, in der zahllose Steinstelen aufgereiht standen, eng beschrieben mit konfuzianischen Lehrsätzen. Sie hatten offenbar dazu gedient, die Texte mit Hilfe von Abreibungen für die Schüler des Tempels zu multiplizieren. Maille wandelte zwischen den Stelen hin und her. Das Licht war gelb und staubig, die Luft dumpf und voller diffuser Ahnungen – so wie sich das für einen solchen Ort gehört.

Die Stimmung erinnerte ihn an das Depot des Museums für Ostasiatische Kunst in Port-Louis, wo er als Student gearbeitet hatte – vor allem an den Nacken von Marlotte, der Direktorin des Hauses, die nur wenige Jahre älter war als er und sehr oft im Depot nach passenden Stücken für ihre Ausstellung über Keramik der Song-Zeit suchte. Wie viele Male hatte er diesen Nacken fast geküsst, wie häufig fast die von der Sonne gebräunte Haut auf seinen Lippen gespürt, wie oft fast ihr feines, blondes Haar eingeatmet – tief, noch tiefer, bis er die Spitzen in seinen Bronchien spürte. Er wusste, dass sie seine Erregung fühlte während sie Vase um Vase durch ihre Hände gleiten liess, sich Zeit liess, viel Zeit. Als er sie aber dann, endlich, nach Wochen der telepathischen Vorbereitung, zu einem Glas Weisswein einladen wollte, lehnte sie ab. Zur Strafe masturbierte er an seinem letzten Arbeitstag in ein seladongrünes Schüsselchen aus dem 10. Jahrhundert. Rund ein Jahr später sah er das Stück in einer Ausstellung des Museums wieder – nun allerdings war es auf das 13. Jahrhundert datiert. Noch heute freute er sich beim Gedan-ken, sein Samenerguss habe diese Verschiebung durch die Jahrhunderte bewirkt.

In der Halle gab es nichts, was ihm hätte weiterhelfen können: keinen Hinweis und keine Unstimmigkeit. Doch dann, am Ausgang, streckte ihm eine der Stelen-Hüterinnen mit dem freundlichsten Lächeln und einer nicht enden wollenden Serie von kleinen Knicksen eine Postkarte hin. Maille wollte wissen, von wem Sie denn die Karte bekommen habe – doch natürlich sprach das Mädchen nur Chinesisch. Auf der Karte waren Drachen aus Bronze abgebildet, die zwischen ihren Krallen einen Himmelsglobus balancierten, ein kugeliges Modell des Weltalls mit diversen Planetenbahnen. Maille kannte diese Plastik – er hatte sie bei seiner Ankunft in der Abflughalle am Airport von Peking sicher zwanzig Mal umrundet während er darauf wartete, am Schalter von Air France endlich seinen Rückflug via Paris buchen zu können.