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Port-Louis, Hauptquartier des Geheimdienstes

Szene 6

Dr. Hing, wie er sich von seinen Schergen nennen liess, war ein Brasilianer chinesischer Abstammung. Er war der Führer einer weltweit operierenden Verbrecherorganisation, spezialisiert auf Entführung und Erpressung. Die Bande machte keinen Unterschied zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern, zwischen Diktaturen oder Demokratien – wo es etwas günstig zu holen gab, schlugen sie zu. Vor vier Jahren hatte Maille schon einmal mit Dr. Hing zu schaffen gehabt – damals hatte seine Organisation versucht, Bernadette Ericsson zu erpressen, eine äusserst wohlhabende Französin, die seit 1988 auf der Insel wohnte. Hing hatte die Köchin der alten Dame entführt und gedroht, sie in Stücken zurück zu senden. Mit viel Glück und auch dank der schnellen Reaktion der Hafenpolizei, war es damals gelungen, die Köchin wieder zu finden – im Vorratsraum eines Containerschiffes, das eben dabei war, die Docks von Port-Louis in Richtung Montréal zu verlassen. Aus Dankbarkeit stiftete Bernadette Ericsson im folgenden Jahr eine grössere Summe für die Rettung der «Lemusair» – jedenfalls mochte Maille den Gedanken, dieses Geschenk sei die direkte Folge der am Stück retournierten Köchin. Schliesslich konnte man sich nicht jeden Tag erfolgreich einbilden, man habe Grosses bewirkt.

Es gab zwar Bilder von Dr. Hing – doch niemand wusste, wie alt diese waren oder woher sie stammten: Sie zeigten einen etwas dicklichen Asiaten, meist mit einer Brille und einem fast etwas schüchternen, gar nicht unsympathischen Lächeln im Gesicht. Einigen Quellen zufolge hatte Hing in Kunstgeschichte promoviert – Maille allerdings bezweifelte dies, zumal er selbst vor vielen Jahren auch zwei Semester in diesem Fach an der Universität von Santa Lemusa belegt hatte. Anderen Informanten zufolge war Dr. Hing von Haus aus Zahnarzt – das leuchtete Maille schon eher ein: Wahrscheinlich war Hing einer jener Sorte, die nicht den Patienten von seinem bösen Weisheitszahn befreien, sondern umgekehrt den «prächtigen Achter» vom Patienten.