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Nudel-Bar östlich Gaien Higashi Dōri

Szene 15

Dass nur wenige Restaurants in Japan eine englische Speisekarte haben, ist das eine - das andere, dass oft auch die Preise der einzelnen Leckereien auf der Menukarte fehlen. Die Gefahr, im kulinarischen Blindflug etwas zu bestellen, das sich dann als Kugelfisch-Kiemen in Sake entpuppte, stellte für einen kulinarisch einigermassen verwegenen Menschen wie Hektor Maille nicht wirklich ein grosses Problem dar. In Japan kam es aber auch vor, dass man ohne viel Aufhebens irgendeinen Schleim verzehrte und dann den Preis eines Kleinwagens dafür hinblättern musste. In dem Fall hatte man wieder einmal den Speichel eines schwangeren Aals aus einem nur alle 40 Jahre Wasser führenden Bach am Berg Tokachi bestellt - und mit einem Lächeln verzehrt, in der festen Überzeugung, es handle sich um einen japanischen «Gruss aus der Küche». Zweifellos gewann man damit den Respekt der Kellner – spätestens auf der Spesenabteilung des Geheimdienstes von Santa Lemusa aber würde die kleine Aalrechnung wohl dann doch eine gewisse Irritation auslösen.

Ganz im Widerspruch zu seinen kulinarischen Trieben musste sich Maille also an Lokale halten, bei deren Angebot mit solchen Überraschungen nicht zu rechnen war – zum Beispiel an Nudel-Bars. Dass man allerdings auch an solchen Orten ganz erstaunliche Entdeckungen machen kann, fand Hektor Maille an diesem Abend heraus als er Tonkotsu-Ramen bestellte – eine Spezialität, die vor allem auf Japans südlichster Insel Kyūshū gerne gegessen wird. Die Nudeln wurden in einer milchig trüben, archaisch duftenden Flüssigkeit serviert, die nichts mit den eleganten Brühen zu tun hatte, in denen japanische Nudeln sonst auf den Tisch kommen. Er sandte eine SMS an Kyuri, seine Lehrerin in Sachen Selbstverteidigung, und bat sie darum, ihm ein Rezept für Tonkotsu-Ramen zukommen zu lassen.

Nach dem Essen faltete Hektor Maille noch einmal die Karte auf, die er in der Plastiktüte auf den Felsen von Shirahama gefunden hatte. Erst jetzt sah er, dass am unteren Rand des Plans in kritzeliger Handschrift ein paar Sätze geschrieben standen – und zwar diesmal auf Französisch: «300 Meter nördlich deines Hotels gibt es eine Sushi-Bar, die 24 Stunden geöffnet hat. Morgen um Punkt 4 Uhr bestellst du dort Live-Fish».

Irgendjemand wusste da sehr genau Bescheid über ihn – sogar, wo er in Tokio wohnte, was er eigentlich nur gerade Marie hatte wissen lassen. Ausserdem irritierte ihn der Befehlston dieser Anweisung. Bisher waren Arals Botschaften immer nur Hinweise auf Orte gewesen, an denen er wiederum den nächsten Hinweis finden würde. Jetzt aber sah es so aus als würde ihm da jemand eine veritable Aufgabe stellen.

Nudel-Suppe «Kyuri»

Menu Maille

Japanische Restaurants halten für ihre Besucher einige Überraschungen bereit – manche sind nur etwas bizarr, andere vor allem auch unbezahlbar. Wer, wie Hektor Maille, sein Spesenkonto schon ein wenig strapaziert hat, hält sich am besten an Sushi oder an Nudel-Bars. Überraschende Aromen können sich überdies manchmal auch in einer Suppenschüssel finden: