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Gewürze aus Santa Lemusa

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Fast japanisch anmutende Landschaft. Detail des Mosaikschmucks im Chor der Cappella Palatina, die 1132 bis 1140 unter Normannenkönig Roger II. als Hofkapelle des Palazzo Reale von Palermo errichtet wurde.

Eine Begehrens-Form von Realität

Vom Wünschen und Ordnen in den Weiten des Ozeans - oder von der Frage, ob ein Gewürz nicht auch eine Insel sein kann.

«World No 1» ist eine Gewürzmischung, die uns auf einen Schlag die ganze Welt auf die Zunge zaubert. Das unglaubliche Rezept stammt von Santa Lemusa – einer fiktiven Insel, die mitten im Atlantischen Ozean liegt. Wie kommt es, dass ausgerechnet auf dieser kleinen Insel ein Rezept entwickelt wurde, das an Welthaltigkeit kaum zu übertreffen ist. Die Antwort hat viel mit der spezifischen Beschaffenheit von Inselvorstellungen zu tun – und fast ebensoviel mit der Unabdingbarkeit einer gewissen Ordnung.

Das Thema Insel lädt zu Grossartigem ein. Zum Beispiel liesse sich sagen, dass die Welt eine Insel sei, ein bizarrer Zufall in der Unendlichkeit des Universums. Oder man könnte behaupten, ein Gedanke sei eine Insel, ein Ort konkreter Formulierungen in einem Ozean aus Ungedachtem. Aus solchen Inseln liessen sich dann Atolle formen, Modelle des Denkens behaupten. Ähnlich weltgültig ist die Vorstellung des Individuums als Insel in den Weiten der Gesellschaft. Das sind alles grosse Wahrheiten – von eher allgemeiner Richtigkeit allerdings.

Konkreter wird es wenn man die Insel als einen Ort der Wünsche ansieht. Das beginnt bei den simpelsten Inselphantasien: Schnell hat man sich einen Strand mit ein paar Palmen vorgestellt, eine Hütte vielleicht, auf deren Dach immer dann eine Kokosnuss fällt wenn man Durst hat. Schön. Aber wie sieht das Hinterland aus? Und ist es nicht etwas öde wenn alle Küsten der Insel Palmstrände sind. Je länger man sich die Insel seiner Wünsche vorstellt, desto mehr verschiedene Dinge packt man drauf – schliesslich will man sich ja am Ort seines Begehrens auf keinen Fall langweilen. Zum Teil sind es Phantasien, die diese Insel der Wünsche beleben. Doch je länger man an ihr baut, desto mehr werden auch Elemente aus der sogenannt «realen» Welt an den Strand gespült. Denn Wünsche neigen zur Realität. Das illustrieren schon die bekannten Witze mit den drei Wünschen, die eine Fee zu erfüllen verspricht: der dritte Wunsch führt fast in allen Fällen wieder zurück zum Ausgangszustand, in die Realität vor dem ersten Wunsch. Einem rechten Inselwart kann solches natürlich nicht passieren: Er wird sorgfältig darauf bedacht sein, dass sich nie alle Wünsche erfüllen – oder besser gesagt: Er wird darauf achten, dass die Wünsche in einem Verhältnis zur Realität stehen. Denn solange die Wünsche sich als Transformationen oder Paraphrasen, als Überzeichnungen oder Unterhöhlungen von «Realität» gestalten, ist garantiert, dass sie mit dieser Realität nicht identisch sein können. Erst wenn sie diese Beziehung zur Realität einbüssen, könnten sie auch die Distanz zu ihr verlieren.

Hält sich der Inselwart an diese Regel, dann wird die Insel der Wünsche immer üppiger und farbiger – bis sie eines Tages so reich ist, dass er die Übersicht verliert. Dann wird es nötig werden, den Wünschen bestimmte Orte auf der Insel zuzuweisen und zu bestimmen, wann sie schlummern und wann sie in Erscheinung treten, mit welchen anderen Wünschen sie sich verbinden sollen, in welche Kontingente sie aufgenommen werden oder was für Kriterien sie sich unterordnen müssen. Kurz, es wird Zeit, dass der Inselwart ein wenig Ordnung in die Dinge bringt. Hierfür braucht es eine zentrale Instanz, eine Art Server, der die Wünsche durch verschiedene Filter oder logische Schlaufen laufen lässt und so in Kategorien einteilt, ihnen das richtige Mass an Bedeutung gibt, sie in eine passende Syntax einbaut, ihnen stimmige Metatexte zuordnet etc. Schnell einmal wird klar, dass einzig die Biographie des Inselwartes solches leisten kann – weil sie die grosse Maschine ist, durch die alle Elemente der Konstruktion gelaufen sind. Gerade auch wegen ihrer Unzulänglichkeiten (dem Vergessen, der Verwechslung, dem Wandel der Leidenschaften) schafft es allein diese Maschine, das Material auf einer über die Jahre gewachsenen Wunschinsel überhaupt noch sinnvoll miteinander zu verknüpfen, und somit eine Geschichte, die Geschichte zu erhalten.

Genau das ist Santa Lemusa: eine ins Wunschhafte übersetzte Niederschreibung (Insularisierung) der eigenen Biographie – oder anders gesagt: eine Begehrens-Form von Realität, geordnet durch das Erleben des Inselwarts.

Dass die Gewürzmischung «World N°1» ausgerechnet auf Santa Lemusa erfunden wurde, ist natürlich kein Zufall. Denn «World N°1» ist nicht nur ein Produkt aus Santa Lemusa, es ist auch eine Metapher für die Insel mitsamt ihrer eben beschriebene Spezifikation. Ja mit ein wenig Phantasie kann man auch die Gewürzmischung selbst als eine fiktive Insel ansehen, auf der Elemente aus aller Welt in transformierter, übersetzter Form ihre Spuren hinterlassen haben.

Aber natürlich hat «World No 1» auch eine Vorgeschichte, die etwas vom Pioniergeist auf Santa Lemusa spüren lässt und zeigt, wie sich so eine kleine Insel auf ihre Weise als Global Player in Szene setzt.

Es gibt Gewürzmischungen, die wir sofort mit bestimmten Gegenden dieser Welt in Verbindung bringen: Raz el Hanut holt uns nach Nordafrika, Baharat an den Arabischen Golf, Sambar-Pulver lässt uns in den Süden Indiens reisen, Five-Spice bringt uns nach China und mit Shichimi Togarashi lassen wir uns nieder an einer japanischen Nudelbar. Das ist grossartig – aber ginge es nicht noch besser? Könnte es nicht auch eine Gewürzmischung geben, die uns das Gefühl gibt, global zu sein, die uns die ganze Welt auf die Zunge zaubert – so, dass uns bei Tisch der Eindruck überkommt, zwischen Messer und Gabel liege nicht bloss ein Teller, sondern der Globus selbst.

Im Frühling 2010 setzt sich das Unternehmen HOIO (der Inselwart von Santa Lemusa) mit Kelma Sala in Verbindung, die als Leiterin den Labors des Musée des Épices et Aromates von Port-Louis vorsteht. Die Forscherin macht sich daran, eine Rezeptur für ein Gewürz zu entwickeln, das Ingredienzien von allen sieben Kontinenten des Planeten enthalten soll. Im Mai 2010 präsentiert Sala als Ergebnis ihrer Arbeit eine Reihe von 12 verschiedenen Mischungen. Eine wird ausgewählt, nach ausgiebigen Tests nochmals leicht modifiziert und schliesslich als Gewürz mit dem Namen «World N°1» standardisiert.

In den folgenden Monaten testet HOIO das neue Gewürz im Kongo, in Georgien und in der Schweiz. Dabei werden der globalen Grundmischung jeweils andere lokale Zutaten beigemischt. Einerseits geben diese Ingredienzien «World N°1» einen jeweils ganz spezifischen Touch – andererseits funktionieren die wohlvertrauten Lokal-Zutaten als eine Art Aussichtsbalkon, den man voller Vertrauen betreten kann, um von dort aus in das weite Welt-Tal zu schauen, seine Nase in die fremdesten Lüfte zu halten.

«World N°1» trägt die Wucht des Globalen ebenso in sich wie Anmutung des Lokalen ‑ ja es lebt davon, dass es ohne Unterlass ein Hier mit einem Dort verbindet. Ganz ähnlich ist auch Santa Lemusa nicht nur eine grosse Erzählung in unbekannter Zeit und fremdem Gewässer, sondern ebenso hier und jetzt. Denn eine Insel der Wünsche gewinnt, wie könnte es anders sein, ihre Realität in jedem Moment und an jedem Ort, in jedem Gedanken und mit jedem Wort.

Dieser Text wurde erstmals im Faltblatt zur Ausstellung «Wunsch-Ordnung / Desiderio Ordine» abgedruckt.

First Publication: 12-11-2011

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