D | E  

Neuste Beiträge

HOIO und Cookuk

  • Das Tagebuch von Raum Nummer 8 (Susanne Vögeli und Jules Rifke)
  • HOIO-Rezepte in der Kochschule – das andere Tagebuch

Etwas ältere Beiträge

Grosse Projekte

Mundstücke

Gewürze aus Santa Lemusa

Abkürzungen

Hybride Praktiken

Es gibt nur wenige Bereiche, in denen so viel gereist wird wie im Bereich der Kunst – nicht nur die Künstler und ihre Galeristen, auch die Kritiker, die Kunsthistoriker und vor allem die Kuratoren sind ständig auf Achse. Meist haben wir gute, sprich professionelle Gründe, warum wir unbedingt an diesen oder jenen Ort reisen müssen. Es ist uns auch wichtig, dass wir nicht etwa als Touristen unterwegs sind, sondern als Berufsleute, also quasi mit einer Mission. Ob man den Unterschied von Aussen wirklich immer sieht, steht hier nicht zur Debatte. Ich persönlich habe nichts gegen den Begriff «Tourist». Er beschreibt jemanden, der eine «Tour» macht, eine «Detour» vielleicht auch – und das trifft auf mich in jedem Fall zu, denn ich bin ein grosser Freund des kleinen Umwegs. Auch macht mir das Reisen unheimlich viel Freude, es regt mich auf, es macht mir Angst, es bringt mich in ausserordentliche Gemütszustände – alles Dinge, die einem echten Profi mit goldener Vielfliegerkarte wohl nicht passieren würden. Zudem ertappe ich mich unterwegs immer wieder dabei, dass mir ein Fotoapparat vor dem Bauch baumelt – was den Menschen ja bekanntlich vollends zum Touristen macht. Doch genug der Peinlichkeiten.

Kehren wir zu der Aussage zurück, dass das Reisen im Bereich der Kunst eine wichtige Rolle spielt, dass Reisen und Kunst auf multiple Art miteinander verknüpft sind – und dies nicht erst seit gestern. Was wäre aus der Renaissance geworden, wäre Michelangelo sein Leben lang in Arezzo geblieben oder hätte Dürer sein Nürnberg nie verlassen? Wie wäre die Moderne verlaufen, wäre Macke nie nach Tunis gereist, hätte Kirchner nie in den Schweizer Alpen gemalt und wäre Picasso nie aus Malaga heraus gekommen? Und wie wäre unser eigener Kunstbegriff beschaffen, hätten wir nie eine Ausstellung in Paris, keine Biennale in Sao Paolo, keine Messe in New York und schon gar nie ein Museum in China gesehen?

Als Kunstkritiker oder Kunsthistoriker denken wir über alle möglichen Bereiche der Kunst und Kultur nach, wir verirren uns gern in entlegenste Details und stossen in die verschiedensten Randbereiche unseres Fachgebiets vor. Über das Reisen aber, das wir so selbstverständlich betreiben, vor allem über unser eigenes Reisen, denken wir im Grunde doch erstaunlich selten nur nach.

Soweit die Ausgangslage.

Um das Folgende zu verstehen, muss man vielleicht wissen, dass ich eine Art Doppelleben führe. Seit zehn Jahren arbeite ich als fest angestellter Redakteur im Kultur-Ressort einer altehrwürdigen Schweizer Tageszeitung namens «Neue Zürcher Zeitung», wo ich für Bildende Kunst zuständig bin. Etwas länger noch betreibe ich ein Importgeschäft namens HOIO, das Gewürze von der Insel Santa Lemusa importiert. Santa Lemusa ist eine fiktive Insel – und der Handel mit lemusischen Gewürzen deshalb ein wenig knifflig.

«Lemusa» ist eine Art Anagramm aus meinem Vornamen Samuel. Mein Psychoanalytiker hat vor Jahren die These aufgestellt, ich hätte aus mir selbst eine weibliche Heilige gemacht – wahrscheinlich hatte er recht, nur der Papst hat das noch nicht eingesehen.

Doch zurück zu meiner Lage. Text hat mich immer fasziniert und ich betrachte das Schreiben bis heute als meine wichtigste Ausdrucksform. Daneben hat es mich aber auch immer interessiert, gewisse Dinge mit der Hilfe von Bildern zu formulieren. Hinzu kommt eine Passion für alles, was mit Essen zu tun hat, die mich seit meiner Kindheit prägt – wobei es mich immer schon mehr interessiert hat, was für Vorstellungen und Ideen ein Gericht transportiert, denn wie es konkret schmeckt. Santa Lemusa besteht aus diesen drei Dingen: aus Texten, Bildern, Essen. Die Konstruktion der Insel hat mich in den letzten Jahren viele tausend Arbeitsstunden gekostet und ist längst nicht abgeschlossen. Ob man dieses Projekt als Kunst bezeichnen will oder als Literatur oder als netten Schwachsinn – spielt für mich nicht wirklich eine Rolle.

Natürlich führt man nicht ungestraft ein solches Doppelleben. Aus meiner persönlichen Situation heraus haben sich eigene, nennen wir sie hybride Formen des Nachdenkens ergeben, die sowohl meine kunstkritischen Texte als auch meine «künstlerische» Arbeit beeinflussen. Und selbstverständlich bin ich auch auf Reisen meist zugleich als Kritiker und als Künstler unterwegs.

Als ich vor vier Jahren die Einladung erhielt, zu einem Forschungsprojekt etwas beizutragen, in dem es um das Verhältnis von Neuen Medien und Raum ging (www.beam-me.net), habe ich das zum Anlass genommen, eine Projekt anzugehen, in dem das Reisen im Zentrum stand – nicht nur die Reisen im realen Raum, sondern natürlich auch die im virtuellen Raum des Netzes. Wobei sich das eine vom anderen heute nicht mehr ganz sauber trennen lässt. Computer und immer mehr auch mobile Geräte mit Internetzugang sind so omnipräsent, dass man auch bei einer Reise im realen Raum immer teilweise im virtuellen Raum unterwegs ist. Wahrscheinlich hat man schon sein Ticket nach Dakar online gebucht und vielleicht benutzt man die Karten von Wikipedia, um sich in Tokyo nicht zu verlieren. Man holt sich schnell ein paar Gastrotips vom Netz, um in Lyon die besten Köche zu finden (so man sich das leisten kann), verschickt vielleicht elektronische Postkarten oder schreibt gar einen Reiseblog. Kurz: Viele von uns, auch ich zum Beispiel, reisen heute parallel in der realen wie in der virtuellen Welt. Was natürlich auch bedeutet, dass auch das Bild, das wir uns von der Erde machen, gleichermassen von realen wie von virtuellen Elementen bestimmt wird. Die Bewegung im Internet verstehen wir gerne als eine Art Reise, man ist unterwegs im www. Der Begriff ist zugleich die beliebteste Metapher für unser Leben, das wir oft als eine Reise bezeichnen.

Aus dieser Sachlage heraus ergeben sich zahlreiche Fragen, die wir sowohl an das Reisen im realen wie im virtuellen Raum richten müssen. Zum Beispiel: Was bedeutet es, unterwegs zu sein, auf der Strasse, im Flieger, auf Booten oder im Netz? Als wer oder was sind wir in welcher Realität unterwegs? Wie findet der reale Raum ins Internet – und umgekehrt? Was für Spuren hinterlässt das Internet im realen Raum? Wie stark wird die eine Realität von der anderen berührt – und wie bewusst ist uns das? Wie stellen wir die Verbindung her zwischen den seltsamen Welten, denen wir auf Reisen (im Realraum oder Internet) begegnen, und der vertrauteren Welt unserer Heimat? Und wie verändern sich diese Realitäten unter dem gegenseitigen Einfluss? Was bedeutet es, etwas zu verstehen? Können wir verstehen ohne zu wissen? Sind Missverständnisse fruchtbar oder gefährlich? Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass die Welt mit jeder Reise grösser wird – unser Wissen über sie aber mit dieser Entwicklung nicht mithalten kann (Flugzeuge sind eben schneller als Hirne, das Internet auch)? Wie können wir etwas betrachten ohne viel darüber zu wissen? Ohne den Kontext zu kennen? Und wie können wir sprechen, Formulierungen finden für Welten, über die wir so gut wie gar nichts wissen? Wie gehen wir um mit der Krise unserer ständig zunehmenden Unwissenheit?

«Mission Kaki», das Projekt, das ich Ihnen hier kurz vorstellen möchte, formuliert keine zentrale Theorie zum Thema Reisen – vielmehr nimmt es verschiedene, sehr unterschiedlich strukturierte Anläufe, sich mit einzelnen Fragen auseinander zusetzten. Es ging mir auch nicht darum, auf Reisen eine bestimmte These zu überprüfen, sondern darum, die Fragen ernst zu nehmen, die sich unterwegs stellen – gleichgültig ob sie nun passend scheinen oder nicht. Das Projekt greift das Thema also nicht direkt an, sondern tänzelt in wechselnden Distanzen um den Gegenstand herum.

Für dieses Tänzchen um das Thema «Reisen» habe ich das Medium der Kriminalgeschichte, genauer das der Spionagegeschichte gewählt. Dem entspricht auch der Titel des Projekts: «Mission Kaki - Hektor Maille tracks Dr. Hing».

Vielleicht schauen wir uns mal schnell den Trailer an.

Die Geschichte ist schnell skizziert: Der Physiker Jenadi Koslow wird entführt, die Insel Santa Lemusa von Dr. Hing und seinen maliziösen Schergen erpresst. Der Geheimdienst schickt seinen besten Mann auf die Spur des Wissenschafters: Hektor Maille. Eine abenteuerliche Jagd kreuz und quer über den Globus beginnt, die von der Küste Senegals durch den Kreml auf die Chinesische Mauer, aus dem dunklen Wasser eines schwedischen Waldsees über den Rochen-Markt von Mokpo in die gleissende Wüste von Sharjah führt. Erst mit der Zeit erfährt Maille, dass vom Erfolg der «Mission Kaki» noch viel mehr abhängt als nur das Wohl des Professors.

So weit die offizielle Zusammenfassung.

Das Projekt besteht aus 20 Episoden, die über einen Zeitraum von drei Jahren sukzessive erarbeitet und online publiziert worden sind. Jede Episode besteht aus durchschnittlich 10 bis 20 Szenen, in jeder Szene findet sich eine kurze Filmsequenz und ein Text. Das ist die Hauptsache. Ausserdem gehört zu jeder Episode ein eigener Trailer sowie ein Menu mit Rezepten, die eng mit der Geschichte zusammenhängen. Man kann sich von A bis Z durch die Geschichte lesen und nur so wird man die kriminalistischen Zusammenhänge auch wirklich verstehen. Dieser Plot spielt jedoch eigentlich nur die Rolle eines Trägers, auf dem andere Erzählungen entwickelt werden. Man kann sich also auch kreuz und quer durch die Geschichte klicken, aus den Rezepten heraus in die Episoden einsteigen etc.

Ihre kompakteste Form hat die Mission Kaki als eine Gewürzmischung, die man sich ins Küchenregal stellen kann: Jedes der 20 Ingredienzien dieses «Maille-Masala» steht in direkter Verbindung mit einer bestimmten Szene aus einer der Episoden. Hektor Maille, der Held unserer Geschichte, findet diese Ingredienzien in der 17. Episode – natürlich in Indien, wo sonst.

Hier die Fabrikation von Maille-Masala anlässlich einer Ausstellung zur Mission Kaki in der Kunsthalle von Mulhouse. (Bild Lena Eriksson)

Den schnellsten Weg durch die Geschichte bietet ein anderes Tool. In jeder Episode taucht Hektor Maille ein Mal aus dem Wasser auf – meistens in einer Badewanne. Maille glaubt, dass man unter Wasser von einer Wanne zur nächsten müsste reisen können, so man nur die Luft lange genug anhält. Was ihm auf seinen Reisen in der realen Welt nie gelingt, ist bei der parallelen Reise im www durchaus möglich – und also sind alle Auftauch-Szenen untereinander verbunden. Für Zeitgenossen mit ganz wenig Zeit gibt es sogar einen 95 -Sekunden-Clip, in dem all diese Szenen zusammengefasst sind.

Im Leben und vor allem auf Reisen kommt es immer wieder vor, dass man lieber an einem anderen Ort wäre. Auch das macht das Internet möglich – und also braucht sich Hektor Maille nur zu wünschen, dass er lieber an anderer Stelle wäre, und zack, schon ist er dort, für einen kurzen Moment auf jeden Fall. So wünscht er sich etwa im Senegal nichts sehnlicher als dass er sich jetzt in Paris über eine grosse Platte mit Meeresfrüchten hermachen könnte – und schwupp, schon sitzt er beim «Ecailler du Bistro» an der Rue Paul Berte. Diese kleinen Querausflüge heissen Eskapaden und stellen eine weitere Möglichkeit dar, sich durch die Story zu bewegen.

Damit Sie eine Idee des Projekts bekommen will ich ihnen nun einige Teile aus zwei Episoden etwas ausführlicher vorstellen: Ich habe mich, mehr oder weniger zufällig, für die Episoden 6 und 14 entschieden. Auf den Spuren von Dr. Hing ist Hektor Maille von Santa Lemusa über den Senegal nach Moskau gereist, dann nach Peking und Schweden gelangt, um schliesslich in Südkorea zu landen, wo wir ihn eines Abends in Zentrum von Gwangju antreffen.

Episode 6 - Szene 5

Nach dem Essen, das wie so oft in asiatischen Restaurants, viel zu schnell vorüber gegangen war, schlenderte Maille durch Downtown Gwangju: Schuhgeschäfte und Fastfood-Lokale, Telefon-Anbieter, Schminkbuden, Fruchtgummi-Bazare und Capuccino-Treffs, dröhnende Rhythmen und der Geruch von in Fett gebackenem Teig – wie überall auf der Welt. Junge Familien, Girls mit nackten, schrecklich weissen Beinen und schüchterne Boys, die gierig Zigaretten in ihre dünnen Körper hinein saugten – als wollten sich damit den Weg ins wirkliche Leben pflastern. Dazwischen ein paar Alte mit luftgetrockneten Gesichtern, Bauern offenbar, die Äpfel, gekochte Maiskolben und kandiert aussehende Kraken verkauften oder Kartonschachteln auf rostige Handwagen schichteten.

Touristen gab es hier keine. Maille spürte die Blicke, die ihn bei jedem seiner Schritte begleiteten. Es waren weder feindselige noch gefährliche Blicke, eher solche, bei denen man sich schnell einmal wie ein Riesenohrenwiesel in einem Zoo fühlen konnte – von Gottes grosser Willkür zu einem seltsamen Wesen gemacht. Da gab es die Kinder, die ihn anstarrten als sei er eben aus dem Fernseher gefallen – und Girls, die ihren verführerischen Augenaufschlag an dem Fremden ausprobierten, kichernd hernach, glücklich über den kleinen Triumph eines empfangenen Blicks. Nur die Alten sahen durch ihn hindurch – vielleicht wegen ihrer konfuzianischer Zurückhaltung oder weil sie annahmen, dass er sich aus kandierter Krake nicht viel machte.

Episode 6 - Szene 6

Maille fühlte sich einsam und fremd – doch war ihm dieses Gefühl selbst auch eigentümlich vertraut. Denn mit den Jahren des Reisens im Dienste der Republik von Santa Lemusa kam ihm dieses Fremdsein mehr und mehr wie eine Art Heimat vor, wie eine eigene, landlose Nationalität – ganz als fühlte man sich ständig mit einem Ort verbunden, den es gar nicht gibt, eine Referenz ohne Objekt.

Auf die Frage nach seiner Herkunft hätte er manchmal gerne und mit grosser Selbstverständlichkeit geantwortet: «aus dem Ausland» – ganz als handle es sich bei diesem «Ausland» um einen konkreten Ort, um einen wenig bekannten Stern vielleicht. Manchmal dachte er auch daran, sich ein Land zu erfinden – eines, auf das man unglaublich stolz sein konnte und das einen nie enttäuschte. Santa Lemusa war sicher nicht der übelste Flecken auf dieser Erde – aber es musste besseres geben. Meist war es ja das Drin-sein, das einen mit seinen Regeln und Automatismen, seinen Wiederholungen und Selbstverständlichkeiten zermürbte. Warum sollte man nicht aus einem Land stammen, das es nur aus der Aussenperspektive gab: aus einem Ausland ohne Inland?

Episode 6 - Szene 9

Am nächsten Morgen setzte Maille seine Kimchi-Recherchen auf einem kleinen Quartiermarkt fort. Er fand ein Geschäft, das frischen Kohl verkaufte und liess sich von den Verkäuferinnen mit Händen und Füssen erklären, wie daraus das koreanische Nationalgericht entsteht.

Wenn sich Diskussionen über Beruf und soziales Umfeld nicht vermeiden liessen, dann stellte sich Maille in fremden Ländern meist als kulinarischer Inspektor vor, «geschieden» ohne Kinder – leider. Der zweite Teil entsprach der Wahrheit, auch das «leider» – denn offenbar war das für Maille genau die passende Art der Nachkommenschaft, «leider keine» Kinder zu haben. Und der erste Teil der Darstellung stimmte wenigstens ein wenig mit Mailles altem Traum überein, als Küchenspion durch die Welt zu reisen - denn das war vielleicht nicht weniger gefährlich, doch ganz bestimmt aufregender.

Von Korea aus führt Mailles Reise in die Arabischen Emirate, nach Bangkok, Kambodscha, Vietnam, Tokyo, Australien, Syrien, Argentinien und von dort aus in die Anraktis, wo wir unseren Agenten wiederfinden wie er durch das Eis wandert.

Episode 14 - Szene 1

Eis schien hier überall – und ewig. Dass es darunter eine Landmasse geben sollte, hielt Hektor Maille für eine ziemlich kühne Behauptung. Aus ihr allerdings resultierte, dass dieses gefrorene Wasser den Anspruch erhob, ein waschechter Kontinent zu sein – genauso gut wie Afrika, Amerika oder Asien. Das Abschmelzen der Polkappen würde die Wahrheit irgendwann ans Tageslicht bringen, dachte Maille. Und wenn es da festen Boden gab, dann müsste rein theoretisch auch etwas wachsen können – wenigstens irgendeine Flechte. Ein Erdball, aus dessen unterem Ende ein gigantisches Moos wucherte, würde zweifellos eine seltsame Figur machen in den sonst so seriös wirkenden Weiten des Weltalls – gewissermassen ein Planet mit Schambehaarung. Das Bild allein war schon Grund genug, es mit der Klimaerwärmung nicht zu weit zu treiben. Fast war ihm als könne er schon die ersten Flechten riechen.

Episode 14 - Szene 5

Eine fürchterliche Stille herrschte in dieser weissen Zelle. Eine Stille, in der das Rauschen, Sausen und Klingeln in seinen Ohren mehr und mehr an Bedeutung gewann – gewissermassen die Betriebsgeräusche, der Verkehrslärm in seinem Kopf. Und auch die schwarzen Fäden, der Augenarzt hatte ihnen den schönen Namen «Mouches volantes» gegeben, schwammen hier durchs Eis wie primitive Würmer durch eine feuchte Petrischale.

Maille war nicht geschaffen für so viel Reinheit. Er mochte es nicht, auf sich selbst, sein eigenes Funktionieren mit all den kleinen Störungen zurückgeworfen zu werden. Aus demselben Grund vermied er abstrakte Kunst. Denn wo sie nicht reine Dekoration war, zielte sie doch genau darauf ab, den Menschen auf sich selbst zurück zu stossen, ihm kein Gegenüber zu sein, ihm die Unterhaltung zu verweigern, eine Geschichte, eine Ablenkung. Was für ein Anspruch. Und wenn dann da einer stand, einer wie Maille, der manchmal in seinen Ohren nur Störgeräusche, in seinem Blick nur die optischen Fehler fand? Die Antarktis war ein gigantisches Monochrom, ein ganzer Kontinent wie eine Malerei von Robert Ryman.

Episode 14 - Szene 6

In dieser Antarktis waren Schritt und Tritt das gleiche. Ob man ging oder stand, welche Rolle konnte das spielen? Fortbewegung war für Maille durch Veränderung charakterisiert, durch neue Landschaften, die sich vor einem aufrollten als wären sie vorher irgendwo verstaut gewesen. Hier aber blieb sich alles gleich, ganz wie auf einem dieser Laufbänder, die er aus dem Fitnesszentrum des lemusischen Geheimdienstes kannte. Fortschritt war hier nur Schritt – fort kam man nicht. Wenn man die Antarktis aus einer Weltkugel suchte, dann verbarg sie sich in der Regel zuunterst auf den Rundungen der grossen Planetenfrucht – man konnte diesen Ort hier also mit einigem Recht auch Unterwelt nennen. Aber vielleicht war das ja auch gar nicht wirklich die Antarktis – vielleicht war das alles nur das Dekor einer Heldentat oder eines überbelichteten Traumes.

So weit einige Auszüge aus der Geschichte. Ich überlasse es Ihnen zu entscheide, ob das wirklich die Antarktis war oder nicht. Von der Antarktis aus reist Hektor Maille in die Demokratische Republik Kongo, nach Jerusalem und in den Süden der Vereinigten Staaten, nach Indien und Paris, um endlich nach Santa Lemusa zurück zu kehren.

Natürlich gelingt es unserem Helden nicht, das Unheil von seiner Insel abzuwenden. Zwar kann er den entführten Professor schliesslich befreien – seine Heimat Santa Lemusa aber wird aus der Karibik heraus mitten in den Atlantik hinein versetzt. Die neuen Koordinaten heissen 44º Nord / 33º West. Das hört sich etwas willkürlich an. Aber das ist es natürlich nicht. Warum 44/33 keineswegs zufällig ist, sondern die perfekte Schnittmenge aus Fiktion und Realität, verrate ich Ihnen an dieser Stelle nicht.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch den zwanzigsten Trailer zeigen, in dem Hektor Maille ein letztes Mal in die Kamera blickt, offenbar auf der Suche etwas, das in einer anderen Wirklichkeit liegt. Er tritt an einem karibischen Strand auf und marschiert an einem atlantischen Ufer davon. Ganz ähnlich ergeht es mir mit den vielen Fragen, die sich mir auf Reisen stellen: Ich gehe sie vom einen Ende her an und rutsche irgendwann am anderen Ende wieder aus ihnen hinaus. Dass ich dabei keine Antworten finde, stört mich nicht, wichtig ist mir nur, dass ich für einen Moment in der Frage drin war.

First Publication: 11-11-2011 

Modifications: 9-12-2011