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In seiner 23. «WoZ»-Kolumne vom 13. Juli 2006 beschreibt José Maria, wie er zusammen mit seiner Tante Lucie im Urwald von Duvet das Eisenbahnmuseum von Santa Lemusa entdeckt - und die Bekanntschaft von dessen Direktor Chi-hsiang Chen macht.
Wesen mit einem rauchenden Kamin, das aus seinem Kopf ragt.

23. Unterwegs mit Tante Lucie II («Der Smind'fe»)

Ich spuckte den Kaugummi aus, liess meine Finger knacksen, holte tief Luft und rammte meine Schulter erneut gegen das honigfarbene Tuch mit Zikadenmuster, unter dem sich das Hinterteil von Tante Lucie wie eine mächtige Wanderdüne wölbte. Ich drückte und stemmte, stiess und wuchtete - doch der generöse Körper meiner Lieblings-Tante aus New York tat keinen Wank. Lucie steckte fest in der Tür zu einem Eisenbahnwagon in den herrlichsten Blautönen, auf den wir mitten im Dschungel von Santa Lemusa gestossen waren. Über ihr, auf dem Dach des Wagens, hockte ein kleiner Affe: Mit seinen runden, dümmlichen Augen glotzte er auf uns herab und kaute dabei gedankenverloren auf einem roten Plastikschäufelchen herum, das er aus einem Sandkasten entwendet haben musste. «Zieh mich raus», befahl Tante Lucie und wedelte mit ihrem rechten Bein durch die Luft – derweilen ihr Linkes in ganz leicht gebeugter Haltung auf dem Trittbrett des Wagens festgeschraubt schien: «Jetzt mach endlich, los». Der Affe stiess bedrohliche Zischlaute aus, entblösste die Zähne und begann mit dem Schäufelchen wild auf das Dach des Wagons zu trommeln.

Ich war ja von Anfang an dagegen gewesen - und auch Marcel Proust. Als Tante Lucie heute morgen mit vor Anstrengung geröteten Wangen ganz plötzlich bei mir in der Küche stand, hörte ich ganz deutlich den Ruf der «Suche nach der verlorenen Zeit» in meiner Linken - auch spürte ich, wie das Kalbleder des Einbands meine Finger streichelte und mir zärtlich zuraunte: «Ne me quitte pas, il faut oublier…» – Tante Lucie verbrachte den grössten Teil ihrer Zeit in einer staubigen Buchhandlung in Brooklyn, die auf technische Manuals spezialisiert war. An den Abenden tröstetet sie sich damit, dass sie systematisch die Rezeptbücher berühmter Küchenchefs durchkochte. «Jedes Pfund auf meinen Hüften ist das Werk eines grossen Künstlers», pflegte sie zu sagen. Eigentlich aber schlug Lucies Herz vor allem für die Archäologie - oder vielleicht müsste man richtiger sagen: Sie liebte es, Dinge zu entdecken, die den Augen anderer verborgen waren. Vor zwei Jahren wollte ich ihr im Wald von Duvet ein paar Felsgravuren der Arawak zeigen – unser Ausflug endete damit, dass sie über eine Schiene der längst vergessenen Eisenbahn stolperte, die einst Port-Louis an der Westküste mit dem Hafen von Bouden im Osten der Insel verbunden hatte (WoZ vom 27. Januar 2005). Damals hatte sich Lucie beim Sturz den linken Fuss verstaucht und wir hatten es mit viel Glück vor Einbruch der Nacht gerade noch nach Duvet geschafft. Unterdessen allerdings hatte sie sich längst von dem Schrecken erholt - und jetzt wollte sie mehr von der Eisenbahn ihrer Heimat entdecken. Ja im Staub ihrer technischen Manuals hatte sie gar den Plan ausgeheckt, den ganzen Streckenverlauf des «Smind'fe» zu rekonstruieren.

«Ich habe eine Kolumne zu schreiben», protestierte ich: «Es geht um Kunst – Eisenbahnen interessieren mich nicht». Mit ein paar beiläufigen Bissen vertilgte Lucie die in Limettensaft eingelegten Felsrötelchen, die ich mir für mein Mittagessen auf dem Küchentisch bereitgestellt hatte – und während sie sich mit ihrem dicken kleinen Finger sorgfältig über die leicht öligen Lippen fuhr, fügte sie an: «Es ist sehr, sehr wichtig». - So kam es, dass ich Marcel Proust allein auf meinem Balkon zurückliess und mich mit Tante Lucie in den Urwald begab. Bald fanden wir auch die Schiene bei Duvet wieder, über die meine Tante vor zwei Jahren gestolpert war. Zur grossen Enttäuschung ihres Entdeckerherzens allerdings mussten wir konstatieren, dass schon jemand vor uns da gewesen war. Ja die Schienen waren gar weitgehend von all den Moosen und Farnen, Lianen und Wurzeln befreit, die sie noch vor zwei Jahren fast vollständig überwuchert hatten. Wir folgten dem «Smind'fe» durch den Dschungel und gelangten schliesslich zu einer Lichtung, in deren Mitte auf einem Abstellgleis der Bahnwagen zweiter Klasse stand, in dessen Tür meine Tante nun klemmte.

Ich trat ein wenig zurück, um mir neue Befreiungsstrategien für meine leise vor sich hinfluchende Tante zu überlegen. Das tiefe, feuchte Grün des Waldes, dann der helle, blaue Streifen des Eisenbahnwagons, darin der zappelnde, honigfarbene Unterleib meiner Tante, und darüber der Affe mit seiner roten Plastikschaufel – irgendwie hatte das wohl auch mit Kunst zu tun. – «Kann ich bitte Ihre Fahrscheine sehen», tönte da eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht eines älteren Chinesen in Bahnwärteruniform, der mich angrinste wie jemand, dem eben ein ganz besonders grosser Fisch ins Netz gegangen ist. – Der Rest der Geschichte wäre schnell erzählt. Allein es fehlt uns an dieser Stelle leider der nötige Platz. Und also muss die Vorstellungskraft des Leser entscheiden, wie ein alter Chinese in Bahnwärteruniform wohl in den Dschungel von Santa Lemusa geriet. Ach ja: Tante Lucie haben wir natürlich herausgezogen – mit international vereinten Kräften.

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 13. Juli 2006, Nr. 28 / S. 14.

Sie hatte gar vor, die ganze Strecke des «Smind'fe» zu rekonstruieren. Illustrationen aus «Das neue Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien», Leipzig und Berlin, um 1880.
Stich einer Eisenbahn, auf der geflügelte Gottheiten sitzen.