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110408 Venice (Italy) Canale Grande
Campo San Vio, Dorsoduro
Freitag, 8. April 2011

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Im Grunde wäre Venedig die perfekte Auto-Stadt. Mit ein paar Schleusen könnte man die City problemlos trockenlegen, mit etwas Beton aus den Kanälen bequeme Fahrwege machen und aus dem Canale Grande eine grandiose, mindestens achtspurige Stadtautobahn. Im Verlauf der Jahrhunderte haben sich in Venedig für Bewegungen zu Land und auf dem Wasser zwei weitgehend autonome Verkehrssysteme entwickelt – würdeman sie erhalten, wäre das eine enorme Erleichterung für die sonst in den grossen Städten unseres Planeten doch arg gebeutelten Automobilisten. Sie könnten endlich Gas geben, ohne fürchten zu müssen, dass plötzlich ein Fussgänger vor ihrer Kühlerhaube auftaucht – mit grossen Augen und kleiner Überlebenschance. Statt der Vaporetti, die sich heute in lärmigen Ritualen an quietschenden Bootsanlegestellen abmühen, könnte man geräuschlos dahingleitende Busse einrichten, die Besucher in nur fünf Minuten vom Bahnhof zur Salute bringen.

Natürlich hat es einen gewissen Charme, wenn vor San Marco die Gondeln im Meerwasser schaukeln, ihr schwarzer Lack von der Gischt umspritzt wird. Aber hätte es nicht auch seinen Reiz, wenn da nachtblaue Limousinen stünden – BMWs mit Hybridantrieb und Cabrios mit Kalbsledersitzen? Wenn sich das Licht des Mondes in den Wellen vor der Accademia bricht und dazu die Stimmen muskulöser Rudermänner «O sole mio» intonieren, dann verbreitet das natürlich einen opernhaften Zauber – aber bricht sich das Mondlicht nicht letztlich fast ebenso schön in der polierten Kühlerhaube eines Alfa Romeo, aus dessen geöffnetem Fenster purer Zucchero trieft?

Man sollte sich heute fragen, ob das viele Wasser dieser Stadt wirklich guttut. Den Gebäuden würden ein paar Abgase sicher weniger anhaben als die ständige Unterspülung durch salzigen Lagunenschlamm. Und wer nur schon zuschaut, wie sich die Angestellten der Commune abplagen müssen, um das bisschen Müll per Schiff aus der Stadt zu schaffen, den überkommen Zweifel, Zweifel am Sinn dieses ganzen Wassertheaters. Ja und hat man sich erst einmal eine Fischvergiftung zugezogen, dann lernt man schnell, wie schwer es einer Krankenschwester fällt, in einem über die Wellen krachenden Ambulanzboot mit der Spritze auch wirklich nur die Vene zu treffen. 

Natürlich gibt es die Touristen, die in Erwartung der grossen Wasserromantik nach Venedig pilgern und in dem überall sichtbaren Zerfall in eigentümlicher Verklärung nur Schönheit sehen. Da die grossen Massen aber ohnehin immer auf denselben Pfaden unterwegs sind, würde es wohl ausreichen, für sie ein paar verkehrstechnisch bedeutungslose Nebenkanäle mit Wasser zu erhalten. Die Gondolieri schliesslich könnte man mit kleinem Aufwand zu Strassenkehrern umerziehen – die Geste bliebe fast dieselbe. Und warum sollten Strassenkehrer nicht auch sehnsüchtige Lieder singen?

Siehe auch

First Publication: 8-9-2011

Modifications: 17-2-2012, 20-6-2013